Kunst-Coup mitten im Karneval-Chaos
Räuber holen Millionen-Beute im Museum in Rio / Werke von Picasso, Matisse, Dalí und Monet Kunstraub im Karnevalstrubel: Eine Gruppe schwer bewaffneter Räuber hat sich den Karnevalstrubel in Rio de Janeiro zu Nutze gemacht und vier wertvolle Kunstwerke aus einem Museum gestohlen. Anschliessend tauchten die Räuber unerkannt in einer grossen Samba-Parade unter. Wie Medien unter Berufung auf Sprecher des Museums Chacara do Céu berichteten, wurden Gemälde von Pablo Picasso, Henri Matisse, Salvador Dalí und Claude Monet geraubt. Der Wert der Bilder wurde nicht genannt. «Ich würde mich nicht wundern, wenn der Gesamtwert bei 40 Millionen Euro liegt», so ein Kunstkenner. Die vier Räuber waren mit Maschinengewehren und einer Handgranate bewaffnet in das Museum eingedrungen. Zwei Wachmänner wurden niedergeschlagen. Ausserdem wurden mindestens fünf Touristen aus Australien und Neuseeland überwältigt und als Geiseln genommen. Die Räuber zwangen die Angestellten nach Angaben der Direktorin, Alarmsystem und Überwachungskameras auszuschalten. Dann seien sie in einer Karnevalsparade, die am Museum in Rios Künstlerviertel Santa Teresa vorbeizog, verschwunden. Bei den gestohlenen Bildern handelt es sich um «Der Tanz» von Picasso, «Le Jardin de Luxembourg» von Matisse, «Zwei Balkone» von Dalí und «Marine» von Monet. Ausserdem sei eine sehr seltene Ausgabe des Buchs «Stiere» von Picasso entwendet worden. «Die Diebe waren Kenner, sie haben gezielt die besten Stücke unseres Museums herausgepickt», so Museumsdirektorin de Alencar. Die Werke seien international derart bekannt, dass es den Verbrechern äusserst schwer fallen dürfte, die Bilder zu verkaufen. «Das Dalí-Bild zum Beispiel ist das einzige des Künstlers in einer öffentlichen Sammlung Lateinamerikas. Wir schicken es immer für Sonderausstellungen um die halbe Welt», meinte de Alencar. Kunstkenner Osorio vermutete eine Aktion von so genannten Kunst-Entführern. «Die Bilder kann man nur schwer verkaufen. Entweder war das ein Verrückter mit tollem Kunstgeschmack oder aber, und daran glaube ich fest, eine Gruppe von Entführern, die schon bald ein Lösegeld für die Bilder fordern werden.» www.main-spitze.de 27.02.2006
Louvre «vermietet» Meisterwerke
Der Louvre in Paris hat eine neue Einnahmequelle entdeckt. Paris - Das amerikanische High Museum in Atlanta muss für die Louvre-Leihgaben tief in die Taschen greifen: 13 Millionen Euro für rund 183 Kunstwerke, darunter Meisterwerke wie «Der Evangelist Matthäus mit dem Engel» von Rembrandt sowie «Die Badenden» von Fragonard. Die Werke werden ab kommenden Oktober für knapp ein Jahr in dem von Renzo Piano neu renovierten Museum zu sehen sein. Der Deal - Kunstwerke gegen Geld - schlägt in der Pariser Museumswelt hohe Wellen. Viele der französischen Museumsdirektoren befürchten einen «Ausverkauf» der Werke, der renommierte Kunsthistoriker und -kritiker Didier Rykner warnt vor der «Globalisierung der Kunstwerke». Mit einem Teil der kolossalen Summe will der Louvre seine Säle renovieren, die dem Mobiliar des 18. Jahrhunderts gewidmet sind. Der Louvre hat eine neue Finanzierungsquelle gefunden, die auch in Frankreichs Presse sehr umstritten ist. Die Frage lautet, wo die Grenzen einer solchen Politik erreicht sind. «Zum Glück haben sie uns noch die «Mona Lisa» gelassen», sagen Kritiker nicht ohne Ironie. «Die Werke sind nationales Kultureigentum. Damit macht man keine Geschäfte», heisst es sogar im näheren Umfeld des Museums. Doch der Direktor des Pariser Kunsttempels, Henri Loyrette, sieht keinerlei Grund zur Beunruhigung. «Bei dem Abkommen zwischen dem Louvre und dem High Museum von Atlanta handelt es sich um eine neue Art der Partnerschaft.» Eine Partnerschaft, die sozusagen auf der Grundlage einer Vermietung beruht. Der Louvre stand bisher im Ruf, ein schlechter «Verleiher» zu sein. Für die grosse Raffael-Ausstellung im Jahr 2002 im Pariser Musée Luxembourg war sogar eine staatliche Anordnung notwendig, damit der Louvre sich von seinem Raffael-Werk «Das Porträt von Baldassare Castiglione» für die Zeit der dreimonatigen Ausstellung trennte. Dieses Gemälde, ein Meisterwerk der Renaissance, steht ebenfalls auf der Liste der Bilder, die nach Atlanta gehen. Das um 1515 entstandene Werk hat Frankreich bisher noch nie verlassen. «Wir sind nicht verrückt. Bestimmte Meisterwerke werden den Louvre nicht für die Dauer von elf Monaten verlassen. Der Raffael wird für drei Monate ausgeliehen», sagt Vincent Pomarède, der Leiter der Gemäldeabteilung des Louvre. Henri Loyrette ist seit 2001 der Direktor des Louvre. Seitdem weht dort ein neuer Wind. So hat der Ölkonzern Total als zahlungskräftiger Mäzen mit mehreren Millionen Euro die Restaurierung der prächtigen Apollo-Galerie mitfinanziert, die im November 2004 eröffnet wurde. Einen Rekord in der Geschichte des Mäzenatentums des Louvre stellte der saudi-arabische Prinz und Milliardär El Walid bin Talal mit seiner Spendenfreudigkeit auf. 17 Millionen Euro gab er für die Gründung einer neuen grossen Abteilung für islamische Kunst. www.rundschau-online.de Sabine Glaubitz 26.02.2006
«Schweiz ist geil»
Jede Reise beginnt mit dem ersten Schritt. Doch mache man sich bitte keine allzu grossen Illusionen hinsichtlich der Freiwilligkeit dieses ersten Schritts. Denn lange vor dem Aufbruch haben uns die geheimen Verführer in den Werbeagenturen schon eingeflüstert, wohin die Reise diesmal gehen soll. «Erlebe deinen Mythos!», raunt es etwa aus Griechenland, wo die Regierung Millionen investiert, um diesen Lockruf unter andere Völker zu bringen. Die Konkurrenz schläft nicht, also schallt es vom anderen Ufer aus Tunesien zurück: «Die schönste Seite des Mittelmeers». Tunesien und Griechenland demonstrieren mit ihren Slogans immerhin Deutsch-Kenntnisse, was keineswegs selbstverständlich ist: «Piu Italia che mai» titelt das römische Fremdenverkehrsamt auf seiner deutschsprachigen Internet-Seite. Die geheime Botschaft: Bitte erst die Volkshochschule, dann Italien besuchen. Das Sprüchlein bedeutet übrigens «Mehr Italien denn je», und da steckt auch ein Fünkchen Wahrheit drin. Je exotischer die Reiseziele, desto englischer die Slogans. Thailand appelliert mit «Happiness on Earth» gleich an die ganz grossen Glücksmomente - und an energische Tsunami-Verdrängung. Porentiefe Reinheit, die man früher von seinem Vollwaschmittel erwartete, findet man heutzutage offenbar nur noch in der südlichen Hemisphäre: «100 % pure» reklamiert Neuseeland für sich, und die Seychellen legen noch ein paar Prozente drauf: «As pure as it gets». Reiner wird es allenfalls noch mit Persil... Bei soviel Wortgeklingel wäre es höchste Zeit für die Weltrangliste der 100 dämlichsten touristischen Sprüche. Südafrika zählt zu den Anwärtern, denn es hat bei Toyota abgekupfert und es sich dann wieder anders überlegt: «It's (im)possible». Was denn nun? Ist Südafrika möglich oder unmöglich? Man bleibt ratlos. Allerdings sollen auch im vergangenen Jahr wieder Hunderttausende hingeflogen sein, um das Geheimnis zu lüften. Andere Länder werben intelligent, bleiben aber von deutschen Urlaubern praktisch unerhört, Jamaica zum Beispiel. Der Slogan «One Love» spielt dezent auf hinlänglich bekannte erotische Reisemotive an, kann sich aber - politisch korrekt - darauf berufen, mit dem Liebesversprechen nur einen Gassenhauer der Reggae-Legende Bob Marley zu zitieren. Deutschland hingegen fehlt ein solcher Popstar, mit dem man global punkten könnte. Beckenbauer singt (glücklicherweise) nicht, Udo Jürgens singt für Österreich und Dieter Bohlen würden auch nur wenige mit gutem Gewissen vorschicken. In dieser popkulturellen Notlage hat sich die Deutsche Zentrale für Tourismus den weltweit einzusetzenden Werbeslogan «GerMANY FACES» abgekniffen: Das Deutschland der vielen Gesichter. Klingt mittelmässig, passt also. Angesichts von hunderten, ja tausenden Lockrufen, die die Zielrichtung unserer Reise manipulieren wollen, wird der verbale Rohstoff allmählich knapp. Es ist höchste Zeit für ein nachhaltiges Recycling von bewährten warmen Worten. Was bringt es, wenn Mexiko heute mit dem lächerlichen «Übertrifft deine Vorstellung» wirbt? Wieviel wirksamer wäre ein Thomas Gottschalk, der kurz vor der Tagesschau versichert: «Mexiko macht Kinder froh, und Erwachsene ebenso!» Auch die Eidgenossen, deren Heimat der Ruf vorauseilt, als Urlaubsziel für treue FDP-Wähler erschwinglich zu sein, könnten deutschen Schnäppchenjägern mal den Kopf verdrehen. Was läge da näher als der (von Saturn) geborgte Slogan «Schweiz ist geil»? www.abendblatt.de Reisenotizen von Olaf Krohn 25.02.2006
Der Untergang männlicher Mythen
«Brokeback Mountain» entfacht neue Debatte über HetenweltenSchwarz, breit, stark? Der «Mythos Mann» ist seit Jahren auf dem Prüfstand. Mann benutzt Parfum und kleidet sich schick. Die letzten Hetero-Dömänen kennt man fast nur noch aus Film und Sport. Die Fassade bekommt Risse: «Gay Games» konkurrieren Olympia, und Hollywood bejubelt den schwulen Western «Brokeback Mountain». Echte, schwule KerleDer heisseste Favorit für die diesjährige Verleihung des Acadamy Awards in der Kategorie «Bester Film» ist Ang Lees schwules Westerndrama «Brokeback Mountain». Die Kritiker jubeln: Lee demontiert Stück um Stück den Mythos der Prärie, des wilden Westens, wo die Welt noch in Ordnung ist, die Cowboys noch echte Kerle sind und man die letzte Freiheit auf Erden noch findet. So kennt Mann das aus der Marlboro-Werbung. Wo Frauen von Herzschmerz-Kitsch schwärmen, träumen echte Kerle vom Kitsch des grossen, freien Abenteuers. Aber jetzt sind die echten Kerle schwul! Zugpferd «Starbesetzung»Warum das so revolutionär ist? Selbst im deutschen Film sind Schwule klischeebehaftete Schönlinge, feminine Schwächlinge oder erfolgreiche Modedesigner. Das ist im prüden Amiland nicht anders. Selbst schwule Filmproduktionen sind eben auf die Zielgruppe zugeschnitten und eher seichte Kost. Die wenigen Ausnahmen sind filmisch meist auch eher Mittelmass. Aber Lee besetzt sein Schwulendrama mit bekannten Gesichtern. Seine Cowboys Jake Gyllenhaal und Heath Ledger sind Zugpferde, und Ang Lee selbst ist in Hollywood seit «Der Eissturm» und «Hulk» auch kein Unbekannter mehr. Vom Western zum SportDie Heteros jubeln, die Schwulen freut es. Schwule Cowboys gab es bislang nur im Porno, jetzt endlich auch auf der grossen Leinwand! Bald steht sicher auch eine Pornoproduktion mit dem Titel «Bareback Mountain» in die Videotheken. Und während der deutsche Film bereits mit «Sommersturm» den schwulen Rudersport aufs Korn genommen hat und mit «Männer wie wir» eine schwulen Fussballmannschaft ins Feld schickte, werden schwule Sportveranstaltungen weltweit immer populärer. Kein Wunder, dass es - auch in Deutschland - schwule Fussballmannschaften gibt. Sogar auf Liga-Nivau. Und die Olympiade der Homosexuellen nennt sich «Gay Games». Weg von den Klischees?Man möchte laut «Halleluja» und «Amen» rufen angesichts so geballter Medienaufmerksamkeit. Man möchte annehmen, dass die letzten Schritte in die Akzeptanz nun auf den Weg gebracht sind. Ich weiss es nicht. Aber die Konkurrenz ist gross: Der Blockbuster des Jahres 2006 wird sich wohl doch eher um die Oberhusche Jack Sparrow drehen. Der erleidet nämlich den zweiten «Fluch der Karibik»! www.dbna.de 24.02.2006
Der Askarija-Schrein und seine Geschichte
 Der Anschlag auf den als «Goldene Moschee» berühmte Askarija-Schrein könnte, da sind sich Beobachter einig, einen Bürgerkrieg zwischen Schiiten und Sunniten im Irak auslösen. Denn die Moschee ist eines der wichtigsten Heiligtümer der Schiiten. ARD-Hörfunkkorrespondent Björn Blaschke über die Geschichte der «Goldene Moschee». Mit Ali, der sozusagen der Begründer der Schi’a war, zählen die Schiiten nach dem Tod des Propheten Mohammed insgesamt zwölf Imame - oder auch Gemeindeoberhäupter. Der elfte Imam, al Hassan, erhielt den Beinamen al Askari, der Soldat. Indes war er keiner; er war vielmehr Gefangener in einem Heerlager, das der im 9. Jahrhundert herrschende Kalif in seiner Hauptstadt Samarra errichtet hatte. Als Hassan al Askari um den Jahreswechsel 873/874 starb, wurde er neben dem zehnten Imam beigesetzt; neben seinem Vater, auf dem Grundstück des eigenen Hauses. Einige schiitische Gruppen glauben, dass der 12. Imam, mithin der Sohn Hassans, von diesem Gebäudes entrückt sei und seither im Verborgenen lebe. Er, der Mehdi, soll vor dem Jüngsten Gericht zurückkehren, um einer Welt voller Unterdrückung Gerechtigkeit zu bringen. Wie auch immer: An der Stelle des Privathauses erhebt sich heute der Schrein der Askarija - der beiden Askaris. Als die Kuppel der Moschee, die zu den grössten der Welt zählt, 1905 fertig gestellt wurde, war sie mit 72'000 goldenen Platten verkleidet. Der Anschlag auf die Moschee war mithin eine kunsthistorische Schändung, aber - und das wiegt wahrscheinlich noch viel schwerer - auch die Schändung eines der wichtigsten Heiligtümer der Schiiten. In den vergangenen Monaten wurden vielfach Moscheen der Schiiten attackiert, jedoch nie eine so wichtige. In einer Zeit, da die Spannungen zwischen Sunniten und Schiiten ohnehin sehr gross sind, könnte das nicht nur zu Racheaktionen führen, sondern zu einem offenen Bürgerkrieg. www.tagesschau.deSiehe auch: Samarra
Love Parade feiert im Sommer ihr Comeback
Sechs Tage nach Abpfiff der Fussball-WM / Veranstalter erwarten rund eine Million BesucherNach zweijähriger Pause feiert die Love Parade am 15. Juli in Berlin ihr Comeback. Man rechne bei der grössten Freiluft-Tanzparty der Hauptstadt mit bis zu 40 Umzugswagen und einer Million Besuchern, sagten die Veranstalter gestern. Das Techno-Spektakel findet sechs Tage nach Abpfiff der Fussball-Weltmeisterschaft wieder rund um die Siegessäule statt. Finanzielle Probleme hatten die Love Parade in den vergangenen zwei Sommern verhindert. Neuer Hauptsponsor und Geschäftsführer der Loveparade GmbH ist der Unternehmer Rainer Schaller, der eine Million Euro bereitstellt. Neu an der Love Parade ist den Angaben zufolge vor allem, dass die Lastwagen nebst Anhängern und technischer Ausrüstung den Musikclubs kostenlos zur Verfügung gestellt werden. Bewerbungen sind über die Homepage www.loveparade.net möglich. Eine Jury und die Besucher der Homepage stimmen darüber ab, wer mitfahren darf. Ausserdem soll das bisherige Techno-Event offener werden für alle Stilrichtungen der elektronischen Musik. Mit dabei ist auch wieder Love-Parade-Erfinder Dr. Motte, der die musikalische Leitung übernimmt. «Ein Hochgefühl der getanzten Lebensfreude» werde die Veranstaltung sein, sagte der DJ. Nicht zum Zuge kommen die Macher der alternativen B-Parade, die ursprünglich ebenfalls am 15. Juli loslegen wollten, jetzt aber aus vertraglichen Gründen der Love Parade weichen müssen. Hauptsponsor Schaller ist Inhaber und Geschäftsführer einer bundesweiten Kette von Fitness-Studios. Er rechne mit Kosten in Höhe zwischen 2 und 3,5 Millionen Euro, sagte der 37jährige. Die Vorbereitungen für die Veranstaltung liefen seit drei Wochen, Gespräche mit weiteren Sponsoren würden noch geführt. Seitens des Senats habe es positive Signale gegeben. Die Berliner Clubs freuen sich über die Wiederbelebung. «Das peinliche Theater in der Vergangenheit hat ein falsches Bild der Berliner Szene geprägt», sagt Olaf Kretschmar, Sprecher der Club Commission. In der kurzen Zeit ein anspruchsvolles Programm zu bieten, sei zwar schwierig, aber dennoch machbar. Normalerweise müssten die DJ's schon im Herbst gebucht werden. Möglicherweise würden dadurch die Top-Acts ausbleiben. «Wir begrüssen aber, dass die Love Parade mit einem breiteren Spektrum aufgebaut wird», betont Kretschmar. Für die Reisebranche sei es jetzt zu spät, mit der Veranstaltung für Berlin zu werben, sagt Natascha Kompatzki, Sprecherin der Berlin Tourismus Marketing GmbH (BTM). Dennoch hoffe sie langfristig auf einen positiven Effekt durch die Wiederbelebung. Die Love Parade fand bisher 15mal statt. 2001 verlor der Umzug seinen Status als Demonstration und konnte nicht mehr kostendeckend veranstaltet werden, weil die Organisatoren selbst für Strassenreinigung und Sicherheit im Tiergarten aufkommen mussten. Allein die Reinigung des Parks kostete rund 600 000 Euro. www.welt.de Florentine Anders 22.02.2006
Der islamische Fundamentalismus: neue Form der Utopie?
Aus Marokko kommen besonders viele radikale Islamisten, als Ursache wird normalerweise die grosse Armut verantwortlich gemachtWenn in Madrid der Prozess gegen 40 Verdächtige der Bombenattentate vom 11. März 2004 beginnt, sitzen vorwiegend Marokkaner auf der Anklagebank. Auch in Deutschland wartet ein Marokkaner, Mounir El Motassadeq, auf sein endgültiges Urteil. Er ist einer von vier Männern marokkanischer Herkunft, die der Beteiligung am 11. September in New York beschuldigt werden. Spaniens führender Staatsanwalt Baltasar Garzon nannte die «Al Qaeda-Marokko Connection» das «schwierigste Problem Europas» in Sachen Terrorismus. Für die hohe Zahl von radikalen Islamisten aus Marokko hält man die Armut des Maghreb-Staats verantwortlich. Beni Makada ist eine der vielen Vorstadtsiedlungen von Tanger, die in den letzten 15 Jahren gebaut wurden. Die zwei- oder dreistöckigen Häuser sind dicht aneinander gebaut. Ungeteerte Strassen sind besonders im Winter nach heftigen Regenfällen von Matsch überzogen. Viele Exil-Marokkaner haben hier ihr über Jahre in Europa erspartes Geld in Immobilien angelegt. Zukunftssicherung bei besonders günstigen Preisen. Aus Beni Makada stammen gleich mehrere der Männer, die in Madrid Bomben in die Züge gelegt haben sollen. Die Arbeitslosigkeit in diesem Viertel ist hoch, in der Nacht ein Ort des Drogenhandels und für alle Nicht-Einwohner ein gefährliches Pflaster. Trotzdem passt diese Vorstadt, mit ihren festen Ziegelbauten, mit Supermärkten und Cafes nicht ins Bild einer verwahrlosten, hoffnungslosen Gegend, wie etwa die Slums in Casablanca. Das «Niemandsland» wurden die Bidonvilles dieser 3,5 Millionen Metropole genannt, für die Sidi Moumen typisch ist, aus denen die Attentäter der Bombenattentate in Casablanca vom Mai 2003 kamen. Aneinander gereihte Blechhütten, wo es keine Strassennamen, keine Adresse gibt, ohne Strom und fliessend Wasser. Exterritoriale Gebiete, in denen sich die Polizei nur selten hinein wagte. Ein Imam sprach dort gemäss der Scharia Recht. Nach einem seiner Schiedssprüche wurde ein Mann sogar hingerichtet. Die bittere Armut habe die Menschen dieser Bidonvilles in den Terror getrieben, liest man bis heute in der internationalen Presse, aber auch in marokkanischen Magazinen wie «Le Journal» oder «Telquel». «Dabei ist es zu kurz gegriffen», behauptet Abdelhay Moudden, Professor für Politikwissenschaft an der Mohammed V. Universität in Rabat, «sozioökonomische Faktoren als einzige Erklärung für islamischen Fundamentalismus zu nehmen.» Viele Attentäter aus Saudi-Arabien oder auch der Türkei kämen aus wohlhabenden Familien. Seiner Meinung nach sei es vielmehr ein komplexes Phänomen mit unterschiedlichen Variablen: Die reale Welt ist nicht mehr befriedigend und die immaterielle Welt, wie die der Religion, wird immer attraktiver. Tod oder Selbstmord werden zu zweitrangigen Kategorien. Für den 52-jährigen Politikwissenschaftler ist es ein historischer Kreislauf, der sich jetzt wieder schliesst. Es gab eine Krise der Utopien. Die sozialistische Utopie der 60er und 70er Jahre des letzten Jahrhunderts hat ihre Wichtigkeit verloren. Nun ist leider extremistischer Fundamentalismus eine neue Form von Utopia. Nach den Attentaten von Casablanca hatte die marokkanische Regierung Massnahmen versprochen, die die Armut in den Slums und Vorortsiedlungen der Grossstädte bekämpfen. Wasserleitungen und Elektrizität sollten gelegt werden, neue Wohnungen gebaut und die Menschen umgesiedelt werden. Davon ist in Sidi Moumen drei Jahre nach den Attentaten wenig zu sehen. Noch immer holen jeden Morgen verschleierte Frauen ihr Wasser am Brunnen. Rundum liegen massenweise Plastiktüten, Kartons und andere Abfälle. Dafür gibt es eine neue Polizeistation, die Moschee, in der die Attentäter beteten, wurde geschlossen und der Imam wie viele andere Bewohner des Viertels verhaftet. «Die Polizei war nicht zimperlich», berichtet einer der Jungen, die in der Nähe der Moschee Fussball spielen. «Aber wirklich besser geworden ist nichts», sagt er und seine Freunde nicken eifrig. Er will wie alle anderen so schnell wie möglich weg von hier. Auch in Beni Makada, einer der vielen Vorstädte Tangers, wurden Razzien durchgeführt, viele Menschen oft wahllos verhaftet und monatelang in Untersuchungshaft gesteckt. Der radikale Imam des Viertels, Mohammed Fizazi, wurde zu 30 Jahren Gefängnis verurteilt, obwohl er lange Zeit mit Wohlwollen der Behörden gegen unliebsame islamische Bewegungen gepredigt hatte. Ein Opfer der Terrorhysterie und eines neuen Anti-Terrorgesetzes, das wenige Tage nach den Bomben in Casablanca vom Parlament mit überwältigender Mehrheit angenommen wurde. Über 7'000 Menschen verhafteten die marokkanischen Behörden, wobei in nur knapp 2'000 der Fälle tatsächlich Anklage erhoben wurde. Am zweiten Jahrestag der Casablanca-Attentate verkündete Koenig Mohammed VI. einen neuen «Nationalen Entwicklungsplan», der etwa 100 Millionen Euro für die Restrukturierung der Slums vorsieht. Man kann nur hoffen, dass diesmal mit den Versprechungen wahr gemacht wird. Im Rest von Marokko, insbesondere im Norden, scheint es Mohammed VI. mit seinen Modernisierungsplänen Ernst zu sein (Arabisches Königreich auf dem Weg in die Moderne). Bei vielen Grossprojekten wie in Tanger beispielsweise, einer Stadt, die von seinem 1999 verstorbenen Vater Hassan II. jahrzehntelang vernachlässigt wurde, kümmert sich der neue Monarch persönlich um ein zügiges Vorankommen. In der Nähe von Tanger soll 2007 einer der grössten Mittelmeerhäfen mit grossräumigen Freihandelszonen eingeweiht werden. Das eine Milliarde Dollar teuere Projekt soll insgesamt 145'000 neue Arbeitsplätze schaffen. Wer weiss, ob das junge Leute aus Tanger, die bisher überproportional im marokkanischen Kontingent islamistischer Terroristen vertreten sind, in Zukunft davon abhält, für das Paradies zu kämpfen und zu sterben. In jedem Fall trägt der neue Hafen and auch alle anderen Projekte zur Senkung der Arbeitslosenquote bei. Von der 30 Millionen Einwohnern waren 2005 nach offiziellen Angaben 11,5% ohne Arbeit, 14,3% lebten unter der Armutsgrenze. Erfüllung einer religiösen PflichtIm November 2005 waren 17 Terroristen von den marokkanischen Behörden verhaftet worden, die im Koenigreich zwei Hotels, eine grosse ausländische Firma und verschiedene Regierungsgebäude in der Hauptstadt Rabat in die Luft jagen wollten. Unter den Verhafteten zwei erst kürzlich aus Guantanamo Entlassene sowie zwei ehemalige Irak-Kämpfer. Sie hatten offensichtlich bereits neue Mitglieder für eine Al-Qaida-Zelle rekrutiert. Gerade Kriegsveteranen sind für Marokko ein grosses Problem. Nicht nur Heimkehrer aus dem Irak, sondern auch Marokkaner, die in Afghanistan gekämpft und eine Ausbildung in den Al Qaida-Lagern erhalten haben. Insgesamt sollen rund 800 Männer bei den Taliban gewesen sein. In den Jahren vor den Flugzeug-Attentaten in New York konnten radikale Islamisten zwischen Marokko und Afghanistan noch völlig unbehelligt hin und her reisen. Nun gibt es jedoch ein FBI-Büro in Rabat und die Zusammenarbeit mit Washington in Sachen Terrorismus wurde intensiviert. Ein Grund übrigens, der von einer bisher unbekannten Gruppe für den Kampf gegen das «korrupte Koenigreich» angegeben wurde. Kurz vor den 17 Verhaftungen im November meldete sich die «Marokkanische Bewegung Tawheed Wal-Jihad» (Vereinigung und Heiliger Krieg), dem Namen nach ein marokkanisches «Franchise-Unternehmen» von Abu Musab al Sarkawi im Irak, und kündigte Anschläge innerhalb Marokkos an. Bisher war nur die «Marokkanische Islamische Kampftruppe» als Terrornetzwerk bekannt, das auch in Algerien und Tunesien Zweigstellen hatte. Dieses Netzwerk hält man sowohl für die Bomben in Casablanca 2003, als auch in Madrid 2004 verantwortlich. Es soll im Süden der Sahara, im algerischen Grenzgebiet zu Marokko, einige Trainingscamps unterhalten. Das Gebiet wird zwar offiziell von der saharischen Befreiungsbewegung «Polisario» kontrolliert, ist aber in Wirklichkeit unüberschaubar. Man kann sicher sein, dass die «Islamische Kampftruppe» ihre Infrastruktur bereitwillig auch den Mitgliedern von «Tawheed wal-Islam» zur Verfügung stellt. Neue Anschläge in Marokko und auch in Europa, gerade in Spanien, das nur 14 Kilometer auf der anderen Seite des Mittelmeeres liegt, sind nur eine Frage der Zeit. «Tod und Selbstmord spielen eine untergeordnete Rolle», wie Abdelhay Moudden, von der Universität in Rabat sagte. «Es geht um die Erfüllung einer religiösen Pflicht.» www.heise.de Alfred Hackensberger 21.02.2006
Amerikaner in «Tal der Wölfe» als Finsterlinge
Rassistisch und antiwestlich sei der Film «Tal der Wölfe», meinen Politiker in Deutschland und fordern Konsequenzen. Doch ob die türkische Produktion abgesetzt wird, ist noch nicht entschieden.Als «türkischer Rambo» möchte Necati Sasmaz nicht bezeichnet werden. «Rambo ist ein amerikanischer Held, ich bin der Polat der Türken», sagt der Schauspieler, der in dem türkischen Kinohit «Tal der Wölfe» in der Rolle des Polat Alemdar die Amerikaner im Irak das Fürchten lehrt und als Rächer der Geschundenen auftritt. Die mit 8,4 Millionen Euro teuerste türkische Filmproduktion aller Zeiten ist an den Kinokassen sehr erfolgreich. Fast 2,5 Millionen Zuschauer sahen den auch in Deuschland angelaufenen Film allein in den ersten zehn Tagen. Er hat den Serienhelden Necati Sasmaz zum «neuen Idol der türkischen Jugend» aufsteigen lassen, so die Tageszeitung «Vatan» (Vaterland) - und eine neue Debatte über Anti-Amerikanismus in der Türkei ausgelöst. «Die GIs in Europa wurden angewiesen, Kinos zu meiden, in denen der türkische Film gezeigt wird», meldete die Armeezeitung «Stars and Stripes» auf ihrer Titelseite. Niemand solle sich mit Unbekannten auf Diskussionen einlassen, um Auseinandersetzungen aus dem Weg zu gehen. Die nationale Begeisterung, die der Actionfilm in den türkischen Kinos hervorruft, lässt solche Befürchtungen nicht völlig unbegründet erscheinen. Vor den Kassen bildeten sich an den ersten Tagen lange Warteschlangen. «Wer an sein Ende denkt, kann kein Held sein», lautet ein beliebter Ausspruch des Leinwandhelden Polat. In Deutschland löste der Film Proteste vor allem von Politikern aus. Bayerns Ministerpräsident Edmund Stoiber (CSU) und der Innenminister Baden-Württembergs, Heribert Rech (CDU), forderten die sofortige Absetzung des gewaltsamen Streifens. «Der Film schürt antisemitische und antiamerikanische Ressentiments, spaltet Kulturen und radikalisiert vor allen Dingen türkische Jugendliche», sagte Rech. Auch der Zentralrat der Juden in Deutschland schloss sich der Forderung an. Nordrhein-Westfalens Integrationsminister Armin Laschet (CDU) will die Jugendfreigabe des Films kippen. Die Freiwillige Selbstkontrolle (FSK) der Filmwirtschaft hatte den Film zunächst erst ab 18 freigegeben. Nach dem Einspruch des türkischen Filmverleihs senkte sie die Altersbegrenzung jedoch auf 16 Jahre. «Sack-Affäre»Ausgangspunkt des Filmes ist ein von der Weltöffentlichkeit kaum zur Kenntnis genommener, aber von vielen Türken noch heute als demütigend empfundener Vorfall im Irak, der sich als «Sack-Affäre» in das Bewusstsein der Nation eingegraben hat. Damals, im Juni 2003, wurden türkische Soldaten von den eigentlich befreundeten Amerikanern festgenommen und aus türkischer Sicht nicht anders behandelt als die Gefangenen im US-Gefängnislager Guantánamo. Im Film schleudert Polat dem Bösewicht Sam Marschall, dargestellt von Billy Zane - Kinogängern aus «Titanic» mit Leonardo DiCaprio und Kate Winslet bekannt - einen solchen Sack ins Gesicht, bevor er ihn später umbringt. «Was ist schlecht daran, einen guten Action-Film zu sehen, in dem einmal die Amerikaner die schlechtere Rolle haben?», fragt der deutsch-türkische Schriftsteller Feridun Zaimoglu, der die Begeisterung türkischer Jugendlicher auch in Deutschland durchaus nachvollziehen kann. Bisher seien stets Araber die Finsterlinge gewesen. Bei «Tal der Wölfe» sei es umgekehrt. «Hier wird Vergeltung auf der Leinwand geübt.» Nicht nur Zaimoglu ist der Meinung, dass der Film auch eine Ventilfunktion hat. «So wie sich Amerika nach der Niederlage in Vietnam durch die 'Rambo'-Filme erleichtert fühlte, so verschafft uns dieser Film Erleichterung», sagte Mehmet Gül, ein ehemaliger Vorsitzender der türkischen Grauen Wölfe, der Zeitung «Vatan». Doch der Film ist nicht nur Vergeltung für die Schmach, die die elf türkischen Soldaten im Irak erleiden mussten. Er ist gespickt mit Gräueltaten gegen eine irakische Hochzeitsgesellschaft und authentischen Folterbildern aus dem berüchtigten US-Gefängnis Abu Ghraib. «Es ist eigentlich ein Film für alle, die [den US- Präsidenten George W.] Bush hassen», meinte ein türkischer Fernsehkommentator. So möchte am liebsten auch Necati Sasmaz beurteilt werden: «Es ist kein Film gegen Amerika, es ist ein Anti-Kriegsfilm.» www.netzeitung.de Ingo Bierschwale 20.02.2006
Karikaturist bedauert nichts
Kurt Westergaard steht zu seinen Karikaturen - auch wenn seine Zeichnungen des Propheten Mohammed weltweit Proteste ausgelöst hatten. Allein gestern starben bei Demonstrationen in Libyen elf Menschen. Heute trat der italienische Reformminister Calderoli zurück. Berlin - Der dänische Karikaturist steht, wie seine elf Kollegen, unter dem Schutz der Sicherheitsbehörden. Trotz der Einschränkungen, die damit verbunden sind und dem ungeheuren Druck, der auf ihm lastet, hält Kurt Westergaard an seiner Karikatur fest. Auf die Frage, ob er die Zeichnung oder deren Veröffentlichung inzwischen bedauere, antwortete er jetzt der schottischen Zeitung «The Herald» kurz und bündig: «Nein». Wegen der Gefahr, in der Westergaard seit Ausbruch der weltweiten Gewaltwelle schwebt, hatte das Blatt das Gespräch über einen Mittelsmann schriftlich führen lassen. Westergaards Zeichnung - eine von zwölf in der dänischen Zeitung «Jyllands-Posten» publizierten - zeigte den Propheten Mohammed mit einer brennenden Zündschnur, die aus seinem Kopf herausragt. Wie die schottische Zeitung weiter schreibt, habe der Zeichner allerdings nicht erwartet, dass die Karikaturen so heftige Reaktionen auslösen würden. Dem Bericht zufolge erklärte er weiter, zu seiner Karikatur hätte ihn der internationale Terrorismus inspiriert, «der seine geistige Munition aus dem Islam bezieht». Seine Arbeit sei auch ein «Protest dagegen, dass wir bei der Meinungs- und Pressefreiheit vielleicht eine Doppelmoral haben werden». Auf die Frage, ob er jemals wieder ein normales Leben führen könne, schrieb der Karikaturist: «Ab und zu werfe ich einen Blick über die Schulter, aber ich vertraue auf den PET (den dänischen Geheimdienst). Ich hoffe es.» Über 11 Millionen Dollar für Tötungen ausgesetzt Der Karikaturenstreit nahm unterdessen in Teilen der Welt an Schärfe zu. In Indien und in Pakistan wurden gar Kopfgelder zur Tötung der zwölf Zeichner ausgesetzt, die allesamt für die dänische Zeitung «Jllyands-Posten» im September 2005 Mohammed-Karikaturen geliefert hatten. Für die Tötung versprach ein Minister des bevölkerungsreichsten indischen Bundesstaats Uttar Pradesh eine Belohnung von umgerechnet mehr als 11 Millionen US-Dollar (9,6 Mio. Euro). Die Vereinigung der Goldschmiede in der pakistanischen Nordwestprovinz lobte eine Million US-Dollar aus. Mässigende Stimmen unter Muslimen in Indien verurteilten allerdings den Aufruf des Regionalministers. Zur Zurückhaltung riefen auch 40 Rechtsgelehrte in Kairo auf. Statt zu demonstrieren, sollten die Muslime in einen Dialog eintreten, um die grosse Bedeutung des Propheten herauszustellen, hiess es in einer gemeinsamen Erklärung in der ägyptischen Hauptstadt. In Kairo kam es auch zu einem hochrangigen Treffen zwischen dem Grossimam Mohammed Sayyed Tantawi von der einflussreichen Al-Aschar-Universität in Kairo und dem dänischen Bischof Karsten Nissen. Der Grossimam schlug dabei zur Lösung des Karikaturen-Streits ein weltweit gültiges Verbot von Beleidigungen religiöser Empfindungen vor. Führende Vertreter der Weltreligionen, darunter er selbst und Papst Benedikt XVI., sollten einen entsprechenden Gesetzestext verfassen, sagte Mohammed Sayyed Tantawi. Bischof Nissen war nach Kairo gereist, um über Auswege aus dem eskalierenden Konflikt zu beraten. Zu Tantawis Gesetzesvorschlag wollte sich der Bischof nicht äussern. Er wies allerdings die Forderung des Imams zurück, der dänische Ministerpräsident Anders Fogh Rasmussen müsse sich für die Veröffentlichung der Karikaturen in der Zeitung «Jyllands-Posten» entschuldigen. «Unser Ministerpräsident ist nicht der Herausgeber dieser Zeitung. Er kann sich nicht für etwas entschuldigen, was er nicht getan hat», sagte Nissen. Einig zeigte er sich mit Tantawi lediglich in der Verurteilung der gewaltsamen Proteste gegen die Veröffentlichungen. Proteste in London und Deutschland Gleichzeitig dauerten die Proteste gegen die Karikaturen an. In Duisburg gingen am Samstag etwa 2000 Muslime auf die Strasse. Die von starken Polizeikräften gesicherte Veranstaltung verlief nach Angaben eines Polizeisprechers friedlich. In Kassel protestierten rund 1500 Menschen friedlich. Nach Angaben der Polizei stammten die meisten Teilnehmer aus der Türkei und aus arabischen Ländern, allerdings seien auch viele zum Islam konvertierte Deutsche dabei gewesen. In London demonstrierten mehrere tausend Menschen. Der Protestzug, zu dem ein Dachverband muslimischer Vereinigungen aufgerufen hatte, bewegte sich vom Trafalgar Square bis zum Hyde Park. Die Polizei sprach von etwa 10'000 Teilnehmern, die Veranstalter von 40'000. Rücktritte in Italien und Libyen Die gewaltsamen Proteste gegen Mohammed-Karikaturen vor einem italienischen Konsulat in Libyen führten zu politischen Konsequenzen in beiden Ländern: In Libyen wurde der Innenminister entlassen, in Italien musste der Reformminister Roberto Calderoli von der fremdenfeindlichen Lega Nord seinen Hut nehmen. Ihm war durch sein umstrittenes Verhalten im Karikaturenstreit eine Mitschuld an der Gewalteskalation gegeben worden, bei der am Vortag elf Menschen getötet und an die 40 weitere verletzt worden waren. Bei einem Fernsehauftritt hatte Calderoli demonstrativ ein T-Shirt mit den umstrittenen Mohammed-Zeichnungen getragen. Eine einflussreiche Stiftung in Libyen hatte Italiens Regierungschef Silvio Berlusconi nach den Ausschreitungen in Benghasi aufgefordert, den Minister zu entlassen, da er ein «von Hass erfüllter Rassist» sei. Wie die Regierung in Libyen mitteilte, sei neben dem Innenminister Nasser al-Mabrouk Abdallah auch der Polizeichef von Benghasi entlassen worden. Dort war es am Freitag zu den gewaltsamen Protesten gekommen. «Wir bedauern, dass es bei den Protesten zu Opfern kam ... wir verurteilen die übertriebene Gewaltanwendung durch die Polizei, die die Grenzen ihrer Befugnisse überschritten hat», hiess es in der Erklärung der Allgemeinen Volksversammlung, die das höchste Legislativ- und Exekutivorgan im Land ist. Die Opfer seien Märtyrer. Unmittelbar nach den Unruhen in Libyen lehnte Calderoli einen Rücktritt zunächst ab. Erst nach Aufforderungen von Ministerpräsident Berlusconi und Oppositionsführer Romano Prodi lenkte der Minister schliesslich ein. «Ich trete zurück», sagte Calderoli knapp. Die Vorwürfe seien dabei eine üble Manipulation, die sich gegen ihn und die Lega Nord richteten. www.spiegel.de 20.02.2006Kommentar: In einem Beitrag für die «Frankfurter Allgemeine Zeitung» schrieb der portugiesische Literatur-Nobelpreisträger Jose Saramago, «ausnahmslos alle Religionen» hätten nie dazu gedient, die «Menschen einander näher zu bringen und den Frieden zu mehren». Vielmehr seien die Religionen der «Grund für unendliches Leid, für Massenmorde und ungeheuerliche physische und psychische Gewalt, die zu den dunkelsten Kapiteln der elenden Geschichte der Menschheit» gehörten.
Bundesrat Deiss kritisiert degressive Steuersystem
Muba 2006: Einkaufs- und Erlebnismesse eröffnetJoseph Deiss nutzte die Muba-Eröffnung für eine Grundsatzrede zu den anstehenden Steuerreformen in der SchweizBasel - Die Muba 2006 hat gestern für zehn Tage ihre Tore aufgemacht. Volkswirtschaftsminister Joseph Deiss eröffnete die 90. Muba mit einem Rundgang. Im Zentrum seiner anschliessenden Rede standen notwendige Steuerreformen. In seiner Ansprache geisselte Deiss degressive Steuersysteme als «problematisch»: Sie gefährdeten die Legitimität als wesentlichen Pfeiler des Steuersystems. Fair seien Steuersätze nach der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit, nicht degressive Steuersysteme mit tieferen Steuersätzen für Reiche, wie in Obwalden kürzlich beschlossen. Finanzkraft nicht tiefredenIn der Diskussion um den Steuerwettbewerb - dessen disziplinierende Wirkung Deiss an sich begrüsste - werde der Finanzausgleich ausgeblendet. Man dürfe nicht seine Finanzkraft tiefreden, um sich unverdiente Transferzahlungen zu verschaffen oder dem Bund damit neue Aufgaben anzuhängen. Generell würden oft Partikularinteressen zu stark gewichtet, was auch die Schweizer Position im Standortwettbewerb schwäche. Die Globalisierung habe diesen verschärft, darum gelte es im Interesse des Landes zusammenzurücken. Als Negativbeispiele nannte Deiss das Gerangel um die Postsortierzentren oder die Stromversorgung. Reformen seien notwendig, sagte Deiss weiter, weil trotz Wirtschaftswachstum die Arbeitslosigkeit nicht zurückgegangen sei. Konkret stehe bei der Ehegattenbesteuerung das Splitting an, die Mehrwertsteuer sei stark zu vereinfachen und die Unternehmenssteuer zu aktualisieren - auch wenn das Mindereinnahmen bedeute. An der Muba mitsamt der neuen Sondermesse «NATUR» präsentieren auf einer Fläche von 40 531 Quadratmetern 1104 Aussteller ihre Produkte und Dienstleistungen. www.shn.ch 18.02.2006
«Vertrauensbank der SS» - Dresdner Bank im «3. Reich»
Die Dresdner Bank war einer neuen Studie zufolge an der Verfolgung und Ermordung der europäischen Juden wesentlich stärker beteiligt, als bisher zugegeben. Das geht aus einer Studie unter Federführung des Dresdner Zeithistorikers Klaus-Dietmar Henke hervor, die am Freitag in Berlin vorgestellt wurde. Die Bank habe bei der «Arisierung» der Vermögen von Juden aktiv mitgemacht, als «Vertrauensbank der SS» den Bau des Vernichtungslagers Auschwitz mitfinanziert und hohe Profite aus der Expansion des Dritten Reichs im Osten erzielt. Durch die Nähe zum «mörderischen Hitlerstaat» sei «die klare Mittäterschaft» der Bank an dessen Verbrechen vorgezeichnet gewesen, sagte Henke. Nach der Machtergreifung der Nazis rückten zwei überzeugte Nationalsozialisten in den Vorstand. Anders als später immer wieder dargestellt, habe der gesamte Vorstand eine enge Zusammenarbeit mit den Nazis aus Opportunismus oder Eigeninteresse gewollt. «Die Bank war Täter und nicht Opfer», betonte der Historiker. «Wir akzeptieren die Wahrheiten, auch wenn sie uns wehtun», sagte Bankvorstand Wulf Meier. Mit der Studie übernehme das Institut «die moralische Verantwortung für ihr Handeln». Daraus folgten aber keine weiteren Entschädigungszahlungen. Er wies daraufhin, dass die Bank zu den Gründern der Stiftung für die NS-Zwangsarbeiter gehört. Die von der Bank in Auftrag gegebene und mit 1,6 Mio. Euro finanzierte Studie entstand in achtjähriger Arbeit. Die Bank habe zu lange über die Tragweite ihrer Beteiligung am NS-System geschwiegen und sich erst nach starkem öffentlichen Druck 1997 zu einer weiter reichenden Untersuchung bereit erklärt, sagte Vorstandsmitglied Meier. Die Studie soll auch den Mitarbeitern zur Verfügung gestellt werden. Laut Henke waren viele Finanzinstitute an der Rüstungs- und Kriegswirtschaft der Nazis beteiligt. Die Dresdner Bank habe aber «im ideologischen Kernbereich nationalsozialistischer Politik» agiert. So sei die Bank der führende Finanzdienstleister der obersten Raub- und Besatzungsbehörden in Polen gewesen und habe massgeblich Unternehmen finanziert, die unter anderem am Aufbau des Vernichtungslagers Auschwitz beteiligt waren. «Die Komplizenschaft mit dem NS-Regime war breiter und intensiver, als bisher bekannt», erläuterte auch der Historiker Johannes Bähr (Berlin). Allein an die SS vergab die Dresdner Bank Kredite in Höhe von umgerechnet 160 Mio. Euro. Hinzu kamen Kontoguthaben von SS-Mitgliedern in etwa gleicher Höhe. «Die SS galt als Kunde mit Potenzial», sagte Bähr. Innerhalb der Bank setzte der Vorstand die antisemitische Politik durch. Die jüdischen Mitarbeiter, etwa fünf Prozent der Belegschaft, seien entlassen worden. Die Zahlung von Betriebsrenten wurde nach der Deportation mit der Begründung eingestellt, die ehemaligen Mitarbeiter würden ohnehin nicht überleben, berichtete der Bochumer Historiker Dieter Ziegler. Die Dresdner Bank habe auch stark von der deutschen Expansion nach Osteuropa profitiert. Die osteuropäischen Bankfilialen trugen massgeblich zum guten Konzernergebnis bei, sagte der Historiker Harald Wixforth (Bielefeld). Je östlicher die Niederlassungen lagen, umso enger seien die Bankgeschäfte mit der Besatzungspolitik verknüpft gewesen. Hitlers Eroberungszug ab 1938 habe der Deutschen und der Dresdner Bank einen Ausbruch aus der geschäftlichen Enge des Altreichs ermöglicht, sagte Henke. Bankenvertreter sowie die Historiker bekräftigten, dass die Arbeit an der 2.400 Seiten umfassenden Untersuchung «Die Dresdner Bank im Dritten Reich» (R. Oldenbourg Verlag) zu keinem Zeitpunkt von den Geldgebern beeinflusst wurde. Kein anderes Unternehmen habe ihre Vergangenheit so gründlich durchleuchten lassen, sagte Henke. Andere Unternehmen sollten dem Beispiel folgen und sich ihrer Geschichte stellen. Er nannte dabei die deutschen Sparkassen, «die seit 60 Jahren die Hände in den Schoss legen, obwohl sie am allerdicksten mit den Nazis verfilzt waren». N24.de, Netzeitung 17.02.2006
Scheibenwischer - Witz und Leitkultur
Der Karikaturenstreit hat das Kabarett erreicht.Ein Gespräch mit dem Rentner Dombrowski alias Georg Schramm von Katharina Schuler Eigentlich wollten sie am liebsten ja gar nichts mehr sagen, die drei Kabarettisten vom Scheibenwischer und ihr Gast Arnulf Rating. «Wegen der Situation mit den Karikaturen, Sie verstehen». Die hat sich nämlich mittlerweile so zugespitzt, dass Mathias Richling schon ängstlich zusammenzuckt, wenn Bruno Jonas das Wort Religionsbeleidigung nur in den Mund nimmt. Aber weil es im Fernsehen nun mal nicht so gut kommt, wenn man gar nichts sagt, reissen sie sich dann doch zusammen, und lassen räsonierend die Themen der letzten Wochen Revue passieren, auch den Karikaturenstreit selbstverständlich. «Das Thema musste rein», sagt Georg Schramm, als er nach der Sendung am Dienstagabend erschöpft und ohne Narrenkappe bei einem Bier in seiner Garderobe sitzt. Das gebiete die Solidarität mit den Satireschaffenden der Welt. Die Karikaturen mögen schlecht, die dänische Zeitung rechtslastig gewesen sein, aber das rechtfertige nicht die Welle der Gewalt, die sie auslösten. Hier müsse man als Kabarettist Stellung beziehen, sagt Schramm und nutzt die Gelegenheit für einen Seitenhieb gegen den Hauptkonkurrenten um Sendezeit, Harald Schmidt. Dessen «ich sag dazu nichts» sei ihm zu wenig. Für Schramm geht’s ums Grundsätzliche. «Wenn wir hier wanken, dann machen wir bald auch nicht mehr den Mund gegen Neonazis auf.» Dass die Scheibenwischer-Kabarettisten die Bereitschaft, über sich selbst lachen zu können, allerdings nicht nur von der fremden Kultur einfordern, unterscheidet ihr Programm wohltuend von mancher anderen Form der Verteidigung der Karikaturen, die man in den letzten Wochen erleben konnte. So nahm Schramm in seiner Karnevalspersiflage denn auch erst mal den eigenen, urdeutschen Humor unter die Lupe und prangerte dessen Obrigkeitshörigkeit an. «Was haben wir früher gerne gelacht, war'n voller Humor an Fasenacht, Emanzen, Türken, Schwule und Grüne, das war die alte deutsche Schule», reimte er angetan mit Pappnase und Jeckenkostüm. Aber selbstverständlich gibt es auch für die deutsche Lustigkeit Grenzen: «Der Papst und unser Präsident – da war uns jede Schmähung fremd.» Der Karnevalist auf der Bühne stellt selbstzufrieden fest: «Wir reden Fraktur, denn unser Witz bleibt Leitkultur.» Und so kriegen sie alle ihr Fett weg. Diejenigen, die Toleranz vor allem dann besonders laut einfordern, wenn es um die Befindlichkeiten anderer geht, und diejenigen, die meinen, ein paar Karikaturen gäben ihnen das Recht, Botschaften anzuzünden und Morddrohungen auszusprechen. «Wir könnten die Bundeswehr doch auch im Kampf gegen die Karikaturen einsetzen», sagt Rating in einer Nummer, in der es eigentlich um die Fussballweltmeisterschaft geht. «Die Soldaten bekämen kleine Bömbchen auf den Kopf, um aller Welt zu demonstrieren, zu welcher Toleranz, Meinungsfreiheit und Selbstironie wir fähig sind.» Jonas lacht betont vorsichtig und schlägt vor, dann müsse man aber auch auf die Hemden draufschreiben «Verstehen sie Spass?» «Ja, Spass mit SS», sagt Rating und Jonas zuckt zusammen, das ginge nun aber wirklich zu weit. «Na ja, wegen der Rechtschreibreform», erklärt Rating und Jonas zufrieden: «Ach so, na dann ist es okay.» Da sind sie wieder, die Grenzen dessen, was noch als spassig gelten darf. «Das ist Gefühlssache», sagt der unverkleidete Schramm nach der Sendung. Das müsse man von Fall zu Fall ausprobieren. Kippen könne das Ganze zum Beispiel, wenn man sich durch überzogene Schärfe ins Unrecht setze. «Das gibt dann so einen Mitleidseffekt.» Die grosse Empfindsamkeit bei allem, was mit Religion zu tun hat, ist für den bekennenden Atheisten Schramm allerdings schwer nachzuvollziehen. «Das hat für mich etwas anachronistisches.» Wenn er entscheiden muss, was geht und was nicht, hält er sich deswegen gerne an die Devise seines Vorgängers Dieter Hildebrandt. «Wenn Hildebrandt das Gefühl hatte, es handele sich bei einer umstrittenen Stelle nur um eine Geschmacklosigkeit, dann hat er gesagt: Das kannst du rausnehmen, dadurch verliert deine Nummer keine Qualität. Wenn er aber das Gefühl hatte, es geht um Schärfe, dann hat er dafür plädiert, es drinzulassen.» Religion braucht den frontalen Angriff, um sich zu zivilisieren, glaubt Schramm. Wäre etwa die Katholische Kirche so friedfertig, wie sie sich heute gerne gibt, wenn ihr nicht durch Reformation, Aufklärung und Säkularisierung «mehrere Zähne gezogen worden wären»? Und deswegen lässt er den Rentner Dombrowski am Ende des Programms auch noch mal ganz grundsätzlich werden. Ein bisschen leitartiklerisch ist er dabei, so wichtig ist ihm die Botschaft, die er loswerden will. Auch hierin erweist Schramm sich als getreuer Anhänger Hildebrandts, dem es mitunter ebenfalls wichtiger war, Stellung zu beziehen, als dies in besonders gefälliger Form zu tun. Dass alle Offenbarungsreligionen eine dunkle Seite hätten, die zu überwinden ihre immerwährende Aufgabe sei, erklärt ein finster dreinblickender Rentner, den Lederhandschuh wie stets auf den Magen gepresst. Fundamentalismus sei eben gefährlich, egal aus welcher Richtung er herangeschwappt komme. Mit den Regeln der Vernunft gemessen ist das Scheibenwischerprogramm viel zu ausgewogen und selbstkritisch, als dass die Macher befürchten müssten, nun mit ähnlichen Drohungen konfrontiert zu werden, wie dies einigen Karikaturisten bereits passiert ist, die sich nicht mehr trauen, in ihren Wohnungen zu leben oder unter ihrem richtigen Namen zu veröffentlichen. Doch mit Rationalität hatte der Verlauf der Debatte ja auch bislang wenig zu tun. Noch sei Angst für ihn kein Thema in dieser Auseinandersetzung, sagt Schramm gleichwohl. Bedroht hat er sich, wenn überhaupt, bislang ohnehin eher aus dem rechtsradikalen, nicht aus dem religiösen Milieu gefühlt. Ein paar böse E-Mails müsse man schon mal aushalten. Sollten die Zeiten härter werden, hat er sich jedenfalls schon mal ein Vorbild ausgeguckt, einen Mann, der bewiesen hat, dass Satire selbst unter lebensbedrohlichen Umständen noch möglich ist. Es ist der Kabarettist Werner Fink, der bei einer Aufführung in den 30er Jahren zu einem Gestapo-Mann sagte: «Kommen Sie mit, oder soll ich mitkommen?» Da bleibt nur noch, den deutschen Humoristen aller Gattungen zu wünschen, dass so viel Mut niemals mehr nötig sein wird. © ZEIT online Katharina Schuler 16.2.2006
UNICEF fordert schnellere Hilfe in Afrika
Das Kinderhilfswerk UNICEF hat die internationale Gemeinschaft zu schnellerer Hilfe für hungernde Kinder in Afrika aufgefordert. Allein am Horn von Afrika seien 1,5 Millionen Kinder unter fünf Jahren von Dürre und Nahrungsmangel bedroht.Das teilte UNICEF in Berlin mit. In zehn Ländern Afrikas sterben nach UNICEF-Schätzungen jedes Jahr eine Million Kinder vor ihrem fünften Geburtstag, heisst es im jüngsten UNICEF-Bericht zur Lage der Kinder in Krisengebieten. «Wir brauchen Geld, und wir brauchen es rechtzeitig und schnell», sagte Dan Toole, Leiter der UNICEF-Nothilfeprogramme. Von den rund 805 Millionen Dollar (1053 Mio. Fr.), die UNICEF in diesem Jahr für seine Arbeit benötige, seien erst 25 Millionen Dollar eingegangen. Die Unterfinanzierung der Hilfsprojekte in einigen Ländern sei dramatisch, mahnte Toole. «In Darfur im Sudan reicht das Geld nur noch für zwei Monate», ergänzte er. Vom Hunger bedroht seien insbesondere Kinder in den «vergessenen Staaten» der Welt, die in den Medien kaum Beachtung fänden, sagte Heide Simonis, Vorsitzende von UNICEF Deutschland. Im Süden Äthiopiens, in Nord-Kenia und Teilen Somalias haben viele Familien nach dem jüngsten UNICEF-Bericht ihre Lebensgrundlagen verloren. Die Mangelernährung mache Kinder besonders anfällig für gefährliche Infektionskrankheiten. Ohne rasche Impfungen könne es zu tödlichen Epidemien kommen, so das Hilfswerk. Der UNICEF-Bericht zur Lage der Kinder in Krisengebieten gibt einen Überblick über die Lebensumstände von Kindern in 29 Ländern. Zwei Drittel der Länder liegen in Afrika. Nach den Kriegen der 90er Jahre seien heute verstärkt Naturkatastrophen Ursache für das Leid der Familien in den armen Ländern der Erde, sagte Toole. www.azonline.chwww.unicef.ch
Paradies auf Abruf
Palmöl oder Tropenholz? Regierungsprojekt gefährdet Indonesiens letztes grosses Urwaldgebiet auf BorneoWirtschaftsinteressen gegen Bewahrung der natürlichen Ressourcen – selten war diese Frontlinie deutlicher ausgeprägt als bei der öffentlichen Debatte, die seit einiger Zeit in Indonesien geführt wird. Seit Sommer vorigen Jahres treibt das Wirtschaftsministerium in Jakarta ein Megaprojekt voran, das unabsehbare ökologische Folgen hat und das letzte noch verbliebene grosse Stück tropischen Regenwaldes in Südostasien gefährdet. Was die einen als Investition in die Zukunft sehen, die einer rückständigen Region Entwicklung und Arbeitsplätze bringt, könnte nach den Warnungen der anderen mittelfristig der Todesstoss für Indonesiens «grüne Lunge» sein. Entsprechend gross ist die Zahl der Kritiker, die beständig zunimmt. Gefährdet sind auch die Borneo-Zwergelefanten und die grösste noch verbliebene Population an Orang-Utans. Dies sind nur zwei Beispiele aus der riesigen Vielfalt einer einzigartigen Tier- und Pflanzenwelt, die es im indonesischen Urwald auf der grossen Insel gibt. So mannigfaltig wie hier sind Fauna und Flora kaum mehr anderswo auf dem Globus, nicht einmal am Amazonas. Ein Naturparadies, das ohnehin schon gefährdet ist. Brandrodungen der Bauern und meist illegaler Einschlag durch jene, die mit Tropenholz Geschäfte machen, gefährden das Naturparadies ohnehin. Alljährlich verschwindet in ganz Indonesien nach Schätzungen des World Wide Fund for Nature (WWF) eine Urwaldfläche, die mit zwei Millionen Hektar halb so gross ist wie die Niederlande. Wenigstens das verbleibende Gebiet auf Borneo gelte es nun zu schützen. Durch dieses Dschungelgebiet nun will die Regierung im Verbund mit chinesischen Investoren eine fünf Kilometer breite Schneise schlagen. 2000 Kilometer lang, immer genau südlich der Grenzlinie, die den malaysischen Teil der Insel im Norden vom indonesischen im Süden trennt. Das Projekt sieht vor, dort mit einer Palmöl-Plantagenwirtschaft zu beginnen. Seitens der Politik ist womöglich schon alles unter Dach und Fach: Als sich Indonesiens neuer Präsident Susilo Bambang Yudhoyono im Juli 2005 in Peking aufhielt, wurden diverse zwischenstaatliche Vereinbarungen unterschrieben. Ob nun bei dieser Gelegenheit die Verantwortlichen ihre Namen darunter gesetzt haben oder nicht – die Vermutung liegt nahe, dass auch über das Megaprojekt im Urwald Borneos zumindest gesprochen wurde. Anders wäre es kaum zu erklären, dass unmittelbar nach dem Besuch die Vorbereitungen in den Ministerialstuben und noch stärker vor Ort vorangetrieben wurden. Acht Milliarden US-Dollar Investitionssumme, eine Million neu entstehende Jobs – für die Politiker ist allein dies Grund genug, das Projekt zu forcieren. Das Engagement der chinesischen Partner könne für eine der ärmsten und benachteiligsten Regionen des Landes nur ein echter Glücksfall sein. Fragwürdig aber ist der Vorstoss aus dem Wirtschaftsministerium allemal. Denn wie die Agrarverwaltung Analysen der Umweltschützer bestätigt, ist der Abschnitt der Insel für den massenhaften Anbau von Ölpalmen kaum geeignet. Es handelt sich um bergiges Gelände – die Bäume allerdings wachsen am besten im Flachland. Kaum ein Zehntel des 10 000 Quadratkilometer umfassenden Streifens komme hinsichtlich Wirtschaftlichkeit für Ölpalmen in Betracht, so ein hochrangiger Ministerialbeamter vor Journalisten in Jakarta. Was also steckt wirklich hinter dem Projekt? Für Umweltschützer ist es der Zugriff auf hochwertige Tropenhölzer im Innern des Waldgürtels. Wo derzeit nur einige Schmugglerbanden ihr Unwesen treiben, könnte Holzfrevel bald in weitaus grösserem Ausmass stattfinden. Einschlag allein um des Holzes willen nicht nur jenseits staatlicher Kontrolle, sondern sogar mit dem ausdrücklichen Segen, ja dem aktiven Mittun der Regierung. Milliardenprofite winken den primär Beteiligten, während sich die indonesische Gesellschaft im Gegenzug auf ebensolche Schäden einrichten kann, wenn die gegenwärtigen Planungen tatsächlich umgesetzt werden. Von negativen Auswirkungen von gut 20 Milliarden Dollar über zehn Jahre ist in den Schätzungen der Umweltschützer die Rede. Dazu gehört nicht nur der Verlust von Tropenhölzern und der ohnehin nicht in Geld zu beziffernden Artenvielfalt. Zerstört wird auch die traditionelle Lebensgrundlage der lokalen Stammesbevölkerung, die in vielfältiger Weise vom Urwald abhängig ist. Nicht auszudenken wären auch die längerfristigen Auswirkungen einer Abholzung dieser Grössenordnung auf das Weltklima, mahnen Öko-Aktivisten. Noch sei es allerdings nicht zu spät, die waghalsigen, geradezu hochgefährlichen Pläne ad acta zu legen. www.jungewelt.de Thomas Berger 15.02.2006
Neue Feudalsysteme
Jean Zieglers unermüdlicher Kampf: Der UNO-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung prangert das «Imperium der Schande» anDass wir nicht am Beginn eines neuen goldenen Zeitalters stehen, steht fest – obwohl die Unternehmensgewinne der Grossen boomen. Oder weil? Aber deshalb von «Refeudalisierung» zu sprechen? Der Schweizer Jean Ziegler macht es in seinem neuen Buch «Das Imperium der Schande» und sagt: «Die neuen kapitalistischen Feudalsysteme besitzen nunmehr eine Macht, die kein Kaiser, kein König, kein Papst vor ihnen je besessen hat.» Wogegen das Elend der Armen immer krasser wird: 100000 Menschen sterben täglich an Hunger oder dessen Folgekrankheiten. Ziegler begründet seine Behauptung aus seinem reichen Erfahrungsschatz als langjähriger UN-Mitarbeiter, zuletzt als Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung. Und nutzt seine intime Kenntnis des Geschäftsgebahrens solcher Schweizer Grosskonzerne wie Nestlé und Novartis sowie der Grossbanken seines Heimatlandes. Im Grunde sagt er dabei nichts total Neues, aber wie er es in seiner bekannt harschen, rücksichtslosen Sprache benennt und zu einer schlüssigen Gesamtschau verknüpft, das nimmt den Leser schon mit. Die wahren Massenvernichtungswaffen sind für ihn Verschuldung und Hunger – nicht die vergeblich bei Saddam Hussein «gesuchten». Ganz konkret wird Ziegler in den beiden Teilen zu Brasilien und Äthiopien. In letzterem hat sich besonders die Lage der Millionen Kaffeebauern dramatisch verschlimmert: Die Aufkaufpreise sind auf rund ein Drittel des Wertes von vor 1990 gefallen. Dies aber weniger durch «blindes Wirken» der Marktkräfte, sondern weil die Grosskonzerne 1989 die internationalen Kaffeevereinbarungen liquidierten, die vorher stabile Preise sicherten. Ähnlich verheerend wirkte die aggressive Kampagne von Nestlé in Afrika zur Etablierung von Milchpulver als Babynahrung. Und ebenso bescherte die stark gepushte Markteinführung von Flaschentrinkwasser, z.B. in Bangladesh, Nestlé riesige Profite. Einen der raren Hoffnungsträger sieht Ziegler in Brasiliens Präsidenten Inacio Lula da Silva, der mit Mut und Geschick ein Null-Hunger-Programm gestartet hat. Wie weit er damit kommt, wird allerdings davon abhängen, ob es gelingt, die «widerlichen Schulden» zu annullieren, die z.B. während der Militärdiktatur zwischen 1964 und 1985 aufgelaufen sind. Für das vielen halbherzig erscheinende Agieren «Lulas» wird angedeutet, dass dem brasilianischen Staatschef sonst vielleicht das Schicksal seines chilenischen Amtsvorgängers Salvador Allende droht ... Für das Elend der Armen prangert Ziegler die neuen Feudalherren, die «Fürsten» der internationalen Konzerne an. Und doch weiss der Schweizer: «Sich im Namen eines persönlichen Humanismus vom allerheiligsten Prinzip der Gewinnmaximierung zu entfernen, käme beruflichem Selbstmord gleich. Zahlreiche Kosmokraten [so nennt Ziegler sie] leben in diesem Dilemma.» Was also angesichts solcher Verstrickung tun, wenn er seiner Vision einer alle Menschen umfassenden sozialen Gerechtigkeit, eines universellen Anspruchs auf Glück treu bleiben will? Die kleine Münze ist Aufklären, «die Praktiken der Herrscher transparent machen ... so fördert man beim Leser ein Gefühl für Gerechtigkeit», aus dem «vielleicht eines Tages der Aufstand des neuen Bewusstseins in den Ländern des Nordens hervorgehen» wird. Schliesslich kommt Zieglers inniges Verhältnis zum Geist der Französischen Revolution zu Tragen: «Man muss die unsichtbare Hand des Marktes zermalmen» und «... die Revolution noch einmal von vorn beginnen», weil der Widerspruch «zwischen der planetarischen Gerechtigkeit und der Feudalmacht ... radikal» ist. Als Fazit bleibt: Ein in der Diagnose ausserordentlich starkes, überzeugendes Buch. Und zugleich eine Herausforderung an den Leser, eigene Schlussfolgerungen zu ziehen – zusammen mit der Entscheidung, auf welcher Seite er stehen will, auf der Seite der Erniedrigten oder auf der der Mörder. So krass formulierte es Ziegler im vergangenen Jahr in einem Film. Für ihn selbst ist es entschieden: Nie wieder auf Seiten der Mörder! http://www.jungewelt.de Werner Schmiedecke 13.02.2006Jean Ziegler: «Das Imperium der Schande». Der Kampf gegen Armut und Unterdrückung». C. Bertelsmann Verlag, 320 Seiten, 19,90 Euro
Hunger nach Kunst
Thomas Jorda über eine Aktion, die auch Niederösterreich gut anstehen würde. «Kunst und Kultur», sagt Airan Berg vom Wiener Schauspielhaus, «gehören zu den Überlebensmitteln in einer demokratischen Gesellschaft. Daher sollte man das humane Grundbedürfnis nach mehr als Brot allein allen erfüllen. Das ist das Ideal. <Hunger auf Kunst und Kultur> ist der Versuch der Verwirklichung.» In Wien geben bereits rund dreissig Kunstinstitutionen kostenlos Tickets an ca. 15.000 Menschen ab, die sich das sonst nicht leisten können, an Arbeitslose, Mindestrentner oder Bezieher von Notstandsgeld, an all jene also, die am Existenzminimum leben müssen. Zu meinen, diese Leute hätten doch andere Sorgen, als sich auch noch mit Kunst zu beschäftigen, beweist bestenfalls Ignoranz, schlimmstenfalls Menschenverachtung. Die Aktion «Hunger auf Kunst und Kultur“ wurde vom Schauspielhaus und der Armutskonferenz in Wien entwickelt, Graz, Salzburg, Zürich haben sie übernommen. Die Abwicklung ist einfach. Berechtigte bekommen einen Kulturpass, mit dem sie kostenlos Tickets aus einem, vom jeweiligen Theater oder Kino oder Museum usw. zur Verfügung gestellten Kontingent beziehen können. Finanziert wird das, fast möchte man sagen basisdemokratisch, also ohne Cent öffentlicher Förderung, aber auch ohne Kosten für die beteiligten Institutionen. Gesponsert werden die Tickets von Konsumenten, die sich‘s leisten können (das nennt man Solidarität); entweder direkt (ich kauf’ eine zweite Karte für einen, der‘s nicht kann) oder über Spenden in aufgestellte Sammelwürfel, oder es findet sich – wie bereits geschehen – ein Sponsor aus der Wirtschaft. Wie das alles genau funktioniert, ist auf den Homepages von Schauspielhaus und Armutskonferenz nachzulesen (jeweils mit www. davor und .at dahinter). Um Nachahmung wird dringend gebeten. Der Mensch lebt nicht von Brot allein ... www.bvz.at (Forum)Thomas Jorda 13.02.2006Anmerkung: Wer kennt ähnliche Aktionen in Bern oder Umgebung? Wir würden sie gerne auf www.g26.ch/bern_gratis.html veröffentlichen.
Kunst im Bauch
Die Hälfte unseres Essens ist aromatisiert. Das betrügt nicht nur die Zunge – es macht auch dick.Vanille ist Luxus. Das findet jedenfalls die Schriftstellerin Sibylle Berg. Wenn sie sich an manchen Tagen in ein besseres Dasein träumt, so weiss sie davon vor allem, «dass es nach Vanille riecht.» Vanille macht auch froh. «Mir ist noch nie jemand begegnet, der beim Duft von Vanille nicht sofort gelächelt hätte», schreibt die Duft-Expertin Eliane Zimmermann in der Stimmungs-Fachzeitschrift «Bunte». Vielleicht liegt es daran, dass Vanille aus schönen Ländern kommt, aus der Südsee, aus der Karibik, von Inseln im Indischen Ozean wie Réunion oder Madagaskar. Doch wenn heute ein Pudding nach Vanille schmeckt, kommt der Geschmack nicht von exotischen Orchideenfrüchten, sondern von ordinärem Holz, verwandelt mit den Künsten der Chemie, beispielsweise in einem niedersächsischen Ort mit dem passenden Namen Holzminden. Dort gelang einem Chemiker namens Wilhelm Haarmann ein folgenschweres Kunststück. Er gewann aus Fichten den Rohstoff für das erste synthetische Aroma der Welt: Vanillin. Das war 1874. Der Mann gründete gleich eine Firma und revolutionierte so die Nahrungsherstellung. Die industriellen Aromen haben den Geschmack von den Produkten gelöst. Bis dahin schmeckten Erdbeeren nur gut, wenn es frische Erdbeeren waren. Eine Suppe war nur so köstlich wie ihre Zutaten. Und wenn etwas schlecht war, dann schmeckte es auch schlecht. Das ist jetzt anders. Mit den chemischen Ersatz-Geschmacksstoffen können teure Rohstoffe eingespart werden, indem Aroma statt Huhn oder Rind in die Suppe kommt. Die Nahrungsmittel sind auch länger haltbar: Während echter Erdbeergeschmack schnell verfliegt, hält sich der Kunstgeschmack im Joghurt so lange, wie es die Supermärkte gern hätten. Aromen ermöglichen auch die Herstellung von Markenprofilen: Während eine Kartoffel geschmacklich stark von den Launen der Natur abhängt, kann ein industrielles Pulverpüree immer gleich schmecken. Ausserdem kann mit diesen Aromen ein unangenehmer Beigeschmack übertönt werden, entstanden etwa durch die Verpackung, den industriellen Produktionsprozess oder die Spuren des Vergammelns. Das Essen vergammelt zwar, aber man merkt es nicht. Der Geschmack ist nicht mehr Bote, der über den Inhalt der Speisen Mitteilung macht, sondern ein Gaukler, der falsche Tatsachen vorspiegelt. Von der Geschmacksfälschung sind in erster Linie industriell hergestellte Nahrungsmittel betroffen. Von der Tütensuppe bis zum Eis, vom Kuchen bis zum Kartoffelpüree, vom Fruchtjoghurt bis zum Bonbon. Sogar im Wein liegt künftig keine Wahrheit mehr, seit die EU zur Jahreswende den Import von alkoholhaltigen Getränken zugelassen hat, deren Geschmack auf Labor-Aromen beruht. Das Zeug darf trotzdem «Wein» heissen. Kinder lernen heute oft erst die Welt der Chemie kennen und werden so fürs Leben geprägt. Etwa mit dem so genannten «Früchtetee» der Kindernahrungsfirma Hipp – vom Hersteller empfohlen ab dem achten Monat. Auf dem Etikett prangen Grapefruit, Erdbeeren, Himbeeren, Brombeeren, Kirschen. Doch davon ist nichts drin in diesem «Früchtetee», sie werden laut Etikett allesamt vertreten durch «Aroma», dazu kommt ein Hauch Malven- und Hibiskusextrakt. Betrug am Kind, gewiss. Doch: Schadet das den Kleinen? Überhaupt nicht, sagt die Industrielobby. Die Stoffe, die bei der Geschmackstäuscherei zum Einsatz kommen, seien harmlos und würden ja nur in winzigen Mengen eingesetzt. Um Grapefruitgeschmack vorzuspiegeln, genügen beispielsweise zwei Billionstel Gramm Aromastoff in einem Liter Wasser. Doch da kommt einiges zusammen: Knapp über 36 000 Tonnen Aromen hat die Nahrungsindustrie im Jahre 2004 allein in Deutschland verarbeitet, knapp 190 000 Tonnen in der Europäischen Union. Mehr als die Hälfte dessen, was die Deutschen verzehren, ist künstlich aromatisiert. 7000 bis 8000 verschiedene Geschmäcker bietet die Aromenindustrie ihren Kunden, den Lebensmittelfirmen, an. Brathuhn, Joghurt, Ananas, Gulasch. Die Geschmäcker werden simuliert mit Hilfe von 2500 einzelnen Aroma-Substanzen, die teilweise aus der Natur stammen (etwa aus Holz), teilweise sogar aus echten Früchten, mitunter aber auch aus der Retorte (Rohöl). Die Lage an der Aromafront ist unübersichtlich. Die meisten Stoffe mussten nie förmlich zugelassen werden, es fehlen Daten über Einsatzbereiche und Wirkung. Die Behörden haben keinerlei Überblick: «Der Aromenbereich ist schwer zu durchschauen», sagt ein Kenner der Materie aus der Lebensmittelkontrolle: «Aromastoffe, das ist eine Hexenküche der Chemie ohnegleichen, und zwar unabhängig davon, ob sie natürlicher oder künstlicher Herkunft sind.» Natürlich oder künstlich, das sind schwer abgrenzbare Sphären, da Erdbeeraroma aus Sägespänen gewonnen werden darf und anschliessend als «natürliches Aroma» auf dem Etikett erscheint. Diese Geschmacksverirrung hat auf die Esskultur, aber auch auf den menschlichen Körper und seine Gesundheit einen schwer abzuschätzenden Einfluss. Der Geschmack war bisher die Domäne der Feinschmecker und der engagierten Köche. Seine Bedeutung für die Gesundheit wurde bisher vollkommen vernachlässigt. Alle drei Wochen wechselt der Körper die Geschmackszellen auf der Zunge komplett aus, damit die Wahrnehmung immer frisch ist. Der Geschmackssinn besorgt die Eingangskontrolle bei der Nahrungsaufnahme. Was bitter schmeckt und angegammelt, wird abgelehnt.Giftige Pilze beispielsweise sind oft bitter. Reine Vorsichtsmassnahme. Zudem dient der Geschmack als Auswahlkriterium bei der Nahrungsbeschaffung. Denn die Gelüste beim Essen haben auch eine wichtige Funktion: Über den Appetit wird der Nachschub an den Bedarf gesteuert. In einer bestimmten Hirnregion, dem so genannten Hypothalamus, mittels Erinnerung an gehabte Speisen der Bedarf an Substanzen übersetzt in die Sprache des Appetits: auf Rostbraten, Currywurst, Apfelkuchen. Wenn der Geschmack in der Rinderbouillon von Chemie-Aromen stammt statt vom Rind, bekommt der Körper falsche Signale und zieht falsche Schlüsse. Sobald die Rinderbouillon duftet, dann läuft dem Esser das Wasser im Munde zusammen, der Verdauungstrakt bereitet sich auch die Verarbeitung von Rind vor, fängt an zu «säfteln», wie der Regensburger Sinnesphysiologe Jürgen Boeckh sagt. Wenn dann nur Aroma und Wasser kommt, dann läuft das System leer. Der Körper verlangt aber nach Stoff und reagiert, so Boeckh, mit verschärftem «Kohldampf». Der Mensch isst mehr, als er sollte. Auf die Frage «Sind Aromen gesundheitsschädlich?» gab sogar der zuständige Lobbyverband die Auskunft, «dass Gesundheitsschäden, die auf dem Verzehr aromatisierter Lebensmittel beruhen, bisher nicht bekannt geworden sind, sieht man vom Übergewicht ab.» Der Esser wird sozusagen hinter seinem Rücken gemästet. Der Frankfurter Jurist Wolf Paul sieht in der massenhaften Geschmacksmanipulation einen Angriff auf die «kulinarische Selbstbestimmung» des Menschen. Das aufgeklärte Individuum, das doch so viel Wert auf Freiheit und bewusstes Handeln legt, lässt sich an einem überaus zentralen Punkt des Daseins hinters Licht führen und bevormunden: bei der Nahrungsaufnahme. Derzeit forschen die Chemiker im Auftrag der grossen Lebensmittelkonzerne an neuen Zusätzen, bei denen die Manipulation eine neue Stufe erreicht. Die künftigen Zusätze beeinflussen nicht den Geschmack der Nahrung, sondern das menschliche Sensorium. Sie setzen direkt an den Geschmackszellen im Mund an, verändern das Geschmacksempfinden, unterdrücken etwa die Wahrnehmung von Bitternis. Denn moderne Industrienahrung hat oft einen bitteren Beigeschmack, wegen der vielen Süssstoffe. Der könne mit den neuen Bitter-Blockern elegant übertüncht werden – sogar ohne dass der Trick eigens auf der Packung ausgewiesen werden muss. Der Esser erfährt gar nichts. Weder, dass er eben etwas Bitteres ass, noch dass seine Wahrnehmung manipuliert wurde. Er kann nun gar nicht mehr erkennen, ob er gerade Bedenkliches verspeist. Der Kontrollsinn wird ausgeschaltet. www.tagesspiegel.de Hans-Ulrich Grimm 12.02.2006Hans-Ulrich Grimm hat enthüllt, dass Erdbeeraroma aus Sägespänen hergestellt wird. Sein Bestseller«Die Suppe lügt» ist nun als aktualisierte Neuausgabe bei Klett-Cotta erschienen.Siehe auch www.g26.ch/kochen
Muslime demonstrieren in Bern
Kundgebung am SamstagIm Zuge des Karikaturenstreits wollen am (morgigen) Samstagnachmittag auch in der Schweiz Muslime auf die Strasse gehen. Eine muslimische Gemeinschaft aus Biel hat zu einer zweistündigen Platzdemonstration auf dem Bundesplatz aufgerufen und erwartet zwischen 1.000 und 2.000 Teilnehmer, wie Mitorganisator Nicolas Blancho sagte. Die Organisatoren haben für ihre Kundgebung bei der Berner Stadtpolizei ein Gesuch gestellt und die Bewilligung auch erhalten, wie Polizeisprecherin Franziska Frey zu einem Bericht der Berner Tageszeitung «Der Bund» bestätigte. Sie wollen mit einer friedlichen Veranstaltung aufzeigen, dass es für alle Grenzen gebe und solche Grenzen auch für die Meinungsfreiheit bestünden. Geplant sind laut Blancho Redebeiträge in verschiedenen Sprachen sowie ein Gebet. Als Hauptredner haben die Organisatoren den Genfer Imam Youssef Ibram eingeladen, dieser erteilte ihnen aber eine Absage. Nun werde noch nach einem Ersatz gesucht, sagte Blancho. Ibram war bis Ende 2004 Imam in Zürich, trat nach einer Kontroverse um ein Interview aber zurück. Er war mit der Aussage zitiert worden, er könne nicht gegen die Steinigung sein, da diese Teil des islamischen Rechts sei. Der Imam kritisierte jedoch, diese Aussage sei verkürzt wiedergegeben worden. www.nzz.ch 10.02.2006 (ap)
Abendland unter
Nach den Karikaturen kamen die Bücklinge, im Zusammenprall mit dem Islam werden zentrale Werte der Aufklärung geopfert. Wie schwach ist Europa eigentlich? Überalterung, Kindermangel und fehlendes Selbstbewusstsein – der alte Kontinent zeigt alle Symptome einer untergehenden Kultur.Wenn wir im Stau stecken, uns durch das Gewühl im Warenhaus ringen, im Fernsehen die von Kindern wimmelnden Elendsquartiere der Drittweltmetropolen sehen, haben wir den Eindruck, dass die «Bevölkerungsbombe», die Paul Ehrlich in seinem Bestseller von 1968 prophezeite, losgegangen ist. Hartnäckig hält sich das Gefühl, dass der Globus hoffnungslos übervölkert ist und dass das Zuviel an Menschen die Erde ruiniert. Wir machen uns Sorgen über Folgen der Übervölkerung, Hunger, eine drohende Klimakatastrophe, den Ansturm von Migranten, das Schwinden der Rohstoffe. Gemäss statistischen Berechnungen wird die Weltbevölkerung, die heute 6,5 Milliarden beträgt, im Jahr 2045 die 9-Milliarden-Grenze überschreiten. Was uns in der Schweiz und in Europa im Jahr 2006 jedoch zu denken geben sollte, ist nicht die Zu-, sondern die Abnahme der Bevölkerung und die tektonischen Verschiebungen in der Bevölkerungsstruktur der Welt. Weil der in Europa seit drei Jahrzehnten registrierte ständige Geburtenrückgang sich bloss in den Entbindungskliniken praktisch auswirkt und im Alltag nicht gespürt wird, halten wir die bevorstehende unaufhaltsame Schrumpfung der Bevölkerung für kein dringliches Problem – eher gar für einen Segen. Die Zukunft wird uns eines Besseren belehren. Der englische Historiker Arnold Toynbee hat geschrieben, dass oberflächliche, Schlagzeilen machende Dinge unsere Aufmerksamkeit von den «langsameren, ungreifbaren, unwägbaren Bewegungen, die unter der Oberfläche arbeiten und in die Tiefen vordringen», ablenken. Doch es sind diese «tieferen, langsameren Bewegungen», die Geschichte machen, während die «sensationellen, vorübergehenden Ereignisse» in Vergessenheit geraten. Zu alt zum ÜberlebenVor hundert Jahren lebte ein Viertel der Weltbevölkerung in Europa, 1950 betrug der europäische Anteil noch 21,7%, heute ist er bei 11,5%, 2050 wird er noch bei 7% sein. Während die europäische Bevölkerung sich verringert, steigt diejenige der islamischen Länder. Innert fünf Generationen (von 1900 bis 2000) hat sich die Zahl der Muslime auf der Welt von 150 Millionen auf 1200 Millionen verachtfacht. Die Muslime vermehrten sich im letzten Jahrhundert doppelt so schnell wie der Rest der Welt. Inzwischen erlebt Europa insgesamt, Süd- und Osteuropa speziell, einen dramatischen Bevölkerungsschwund. In Italien, in unserer Vorstellung immer noch das kinderreiche Land, in dem die Bambini verhätschelt werden, sind heute bloss noch 13,9% der Gesamtbevölkerung Kinder (unter 15), während die Alten (über 65-Jährigen) bereits 19,4% ausmachen. Im Vergleich: In Algerien gibt es 29% Kinder, 4,7% Alte, in Äthiopien 43,9% Kinder, 2,7% Alte; in Gaza gar 48,5% Kinder und nur 2,6% Alte. (Schweiz: 16,6% unter 15, 15,4% über 65). Italien ist heute das «älteste» Land Europas. Letztes Jahr sind mehr Italiener gestorben als auf die Welt gekommen. Nur die Einwanderung von geschätzten 118000 hielt die Bevölkerungszahl stabil. In den sechziger Jahren brachten italienische Frauen jährlich eine Million Kinder zur Welt, seit den neunziger Jahren sind es noch eine halbe Million jährlich. Dies bedeutet, dass schon in zehn Jahren die Zahl der potenziellen Mütter auf die Hälfte zurückgegangen sein wird. Der Bevölkerungsrückgang wird sich beschleunigen. Bis 2050 rechnet man mit einer Schrumpfung der Gesamteinwohnerzahl Italiens von heute 58,1 Millionen auf 52,2 – sogar wenn die Einwanderung anhält und die Fertilität oder Gesamtfruchtbarkeitsrate von heute 1,28 Kindern pro Frau wieder, wie heute im «fruchtbaren» Skandinavien oder in Frankreich, auf 1,7 oder 1,9 steigt. Um die Bevölkerungszahl (ohne Einwanderung) stabil zu halten, braucht es eine Fertilität von 2,1, die heute in Europa nirgends erreicht wird. Schon nach dem 1. Weltkrieg mit seinen Millionen von Toten warnten Forscher und Politiker vor einer bevorstehenden Entvölkerung und ihren möglichen Folgen für die westliche Zivilisation. Für den Geschichtsphilosophen Oswald Spengler waren Hochkulturen «wie die Blumen auf dem Felde». Sie blühten auf, reiften und welkten. Das «Abendland» hatte gemäss Spengler seinen Zenit überschritten und ging unentrinnbar dem «Untergang» entgegen. Der apokalyptische Schwarzseher täuschte sich. Nach einem durch Stalins und Hitlers Völkermorde und den 2. Weltkrieg verursachten Bevölkerungsrückgang setzte ein unerwarteter Baby-Boom ein, der bis in die frühen sechziger Jahre anhielt. Es waren nun die Probleme der Übervölkerung und der Umweltzerstörung, die Öffentlichkeit und Politiker alarmierten. Niemand störte es, als die Gesamtfruchtbarkeitsraten in den europäischen Ländern unter das Ersatzniveau von 2,1 sanken – im Gegenteil. Keiner Regierung fiel es ein, wie dies in den dreissiger Jahren die italienischen und deutschen Diktaturen ebenso wie die französischen und schwedischen Demokratien taten, aktiv «Natalismus» oder Geburtenförderungspolitik zu betreiben. Staatliche Propaganda, die Frauen zum Gebären auffordert, gilt als anrüchig. Es erinnert an den rassistischen Fortpflanzungsfimmel der Nazis. Selbst eine aktive Familienpolitik, die Betreuungsmöglichkeiten schafft und das Kinderkriegen steuerlich begünstigt, hatte in den meisten europäischen Staaten noch bis vor kurzem einen niedrigen Stellenwert. Der Preis des WohlstandsIn der Vergangenheit verursachten Hungersnot, Epidemien, Kriege oder andere vorübergehende Katastrophen einen Rückgang der Bevölkerung. Heute sind es die sichersten und wohlhabendsten Länder, deren Einwohnerzahl schrumpft und in denen Kinder rar sind. Modernität ist der Hauptgrund für sinkende Geburtenraten. In unseren Gesellschaften haben die am besten ausgebildeten und materiell erfolgreichsten Mitglieder die wenigsten Kinder. Wenn ein Evolutionsbiologe beim Studium einer anderen Gattung feststellen würde, dass diejenigen Männchen und Weibchen, die bei der Nahrungssuche am erfolgreichsten sind, hohe Unfruchtbarkeitsraten aufweisen, müsste er daraus schliessen, dass diese Gattung im Begriff ist auszusterben oder vor einer dramatischen Mutation steht. Sind die menschlichen Populationen in Europa eine glückliche Ausnahme? Ein demographisches Vakuum wird aufgefüllt. Einzig Einwanderung kann verhüten, dass die Abwärtsspirale in der europäischen Bevölkerungsentwicklung sich immer schneller dreht. Die EU braucht jährlich 1,6 Millionen Einwanderer, um die im arbeitsfähigen Alter stehende Bevölkerung auf gleichem Niveau zu halten. Um 2050 wird in Italien und Spanien das Verhältnis von Erwerbstätigen zu Pensionierten 1:1 sein. Im europäischen Durchschnitt (zu dem die Schweiz gehört) werden vier Erwerbstätige für drei Pensionierte aufkommen müssen. Im südlichen «Hinterland» Europas, dem Gürtel von Pakistan bis Marokko, wo die Bevölkerung vorläufig immer noch stark zunimmt, steht ein riesiges Reservoir von in ihren Ländern überschüssigen, beschäftigungslosen jungen Menschen bereit, die darauf brennen, die Bevölkerungslücken in Europa zu schliessen. Fast alle sind Muslime. Bereits heute leben in der EU schätzungsweise 20 Millionen oder 5% Muslime. Hält der Trend an, werden es 2020 schon 10% sein. 7% aller letztes Jahr in Europa geborenen Kinder sind muslimisch, in einer Stadt wie Brüssel sind es gar 57%. Schätzungsweise ein Viertel aller französischen Schüler sind schon heute Muslime. Der Historiker und Islamforscher Bernard Lewis fasst die Entwicklung so zusammen: «Europa wird Teil des arabischen Westens sein, des Maghrebs. Dafür sprechen Migration und Demographie. Europäer heiraten spät und haben keine oder nur wenige Kinder. Aber es gibt die starke Immigration: Türken in Deutschland, Araber in Frankreich und Pakistaner in England. Diese heiraten früh und haben viele Kinder. Nach den aktuellen Trends wird Europa spätestens Ende des 21. Jahrhunderts muslimische Mehrheiten in der Bevölkerung haben.» Secondos träumen vom KalifatDiese Entwicklung wird die europäische, «abendländische» Kultur verändern. Steffen Kröhnert vom Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung gibt ein Beispiel: «Schauen Sie sich eine Region wie das Ruhrgebiet an. Dort werden schon 2010 etwa 50 Prozent der unter 30-Jährigen einen Immigrationshintergrund haben, weil die Deutschen kaum Kinder kriegen und aus den Städten weggezogen sind und die, die zurückbleiben, viele Kinder kriegen. Natürlich sind das Migranten. Wenn man davon ausgeht, dass jüngere Menschen unter 30, 35 viel aktiver in die Gesellschaft wirken als Ältere und Rentner, kann man sich vorstellen, dass dies die öffentliche Kultur verändert, weil diese 50 Prozent Ansprüche stellen, ihre Kultur in dem Land zu verankern.» Während die grosse Mehrheit der Einwanderer damit zufrieden ist, ein Auskommen zu finden, Familien zu gründen und im Gastland heimisch zu werden, haben junge, von einer islamistischen Ideologie beseelte Hitzköpfe der zweiten Generation oft ehrgeizigere Ziele. Diese von radikalen Imamen oder Websites indoktrinierten, aus Westasien oder Nordafrika stammenden Secondos träumen von der Wiedererrichtung des Kalifats, von der Vereinigung aller Muslime unter einer Flagge. Deren Extremismus ist nicht bloss eine Reaktion ausgegrenzter Unterschichtler. Unter den Neoislamisten finden sich viele erfolgreich integrierte Söhne und Töchter von Emigranten, wie der niederländische Informatikstudent Mohammed Bouyeri, Kind mausarmer analphabetischer Einwanderer aus Marokko und Mörder des Künstlers Theo van Gogh. Letzten Monat berichtete die Washington Post über Hizb ut-Tahrir, eine in 40 Ländern aktive Ablegerorganisation der Muslimbruderschaft, deren erklärtes Ziel die Islamisierung der Welt ist. Der Artikel beschreibt, wie 800 junge, gutgekleidete Dänen, meist muslimische Secondos, an einem Sonntagmorgen sich vier Stunden lang Vorträge anhörten, in denen man ihnen erklärte, wie die islamische Welt durch westliche Ideen wie Nationalismus und Demokratie verdorben wurde. Grausliche Bilder getöteter irakischer Kinder wurden an die Wand projiziert, und Fadi Adbullatif, ein dänischer Sprecher von Hizb ut-Tahrir, rief aus: «Niemand kann bezweifeln, dass der sogenannte Krieg gegen den Terrorismus ein Krieg gegen den Islam ist. Der islamische Staat ist der einzige Schutz, der einzige Schild für Muslime.» Am Ende der Veranstaltung, die mit einem machtvollen Chor «Allahu akbar!» endete, blickte der im Libanon geborene Muziz Abdullah in den bis auf den letzten Platz besetzten Saal und sagte dem Reporter: «Vor zehn Jahren war es völlig unrealistisch, zu denken, dass es je ein Kalifat geben würde. Heute glauben die Leute, dass es in wenigen Jahren geschehen kann.» Wenn nicht das Kalifat angestrebt wird, dann mindestens die Ausdehnung der islamischen Scharia. Laut einer Meinungsumfrage von 2004 wünschen 60% der britischen Muslime (1,6 Millionen), unter dem religiösen Gesetz der Scharia und nicht dem althergebrachten englischen Recht (Common Law) zu leben. In allen Städten und Gegenden Europas leben junge Muslime, die im Islam einen neuen Lebenssinn entdeckt haben, die an den Dschihad, den heiligen Krieg, glauben und bereit sind, für ihre Sache zu töten und zu sterben. Der radikale Islam, sagt Bernard Lewis, habe eine grosse Anziehungskraft auf junge Menschen, da er ihnen Überzeugungen und Gewissheiten vermittle, ihnen die Erfüllung einer Mission gebe. Mehr noch als die Anschläge von Madrid und London ist die Ermordung des Filmemachers Theo van Gogh in Amsterdam ein Vorbote dessen, was auf uns zukommen könnte. Die vorsätzliche Tötung oder bereits schon die Einschüchterung von im Rampenlicht stehenden Personen, die sich der Ausbreitung des Islams in Europa widersetzen oder einfach die Gefühle der Muslime verletzt haben, ist eine wirkungsvolle Taktik zur Aufweichung des Bürgersinns der einheimischen Bevölkerungen. Im Falle Theo van Gogh schoben wohlmeinende Zeitgenossen und wohlgesinnte Medienleute dem provozierenden Filmemacher die Schuld für die eigene Ermordung zu. Er hätte eben die Muslime nicht beleidigen dürfen. Wie in Frischs Theaterstück neigen Biedermänner dazu, sich einnistende Brandstifter gewähren zu lassen. Kampfbegriff «Islamophobie»Eine andere, subtilere Taktik der Islamisten besteht darin, Kritiker ihres Tuns, Redens und Denkens des Rassismus und der Islamophobie zu bezichtigen. Sie stellen sich selber als Opfer westlicher kolonialistischer Denkweise dar und erzeugen dabei bei der einheimischen Bevölkerung Schuldgefühle, die den Widerstandswillen ebenfalls schwächen. Der gegenwärtig lodernde Propagandakrieg um die dänischen Mohammed-Karikaturen zeigt, wie eine gutorganisierte Kampagne – diplomatische Initiativen, Demonstrationen, Lügen, Morddrohungen, Verbrennung von Fahnen, Boykotte, Angriffe auf Botschaften – europäische Regierungen und Bevölkerungen in die Defensive drängen kann. Nach den Bombenanschlägen in London vom 7. Juli letzten Jahres beeilten sich nicht nur muslimische Notabeln, sondern auch britische Politiker, vor einem «backlash» gegen die muslimische Bevölkerung zu warnen. Für viele war weniger die Ermordung braver, ihrer Arbeit nachgehender Leute tadelnswert als die daraus möglicherweise resultierende, hypothetische «Islamophobie». Wie der kanadische Kommentator Mark Steyn sarkastisch bemerkte: «Die alte Definition einer Nanosekunde war die Zeitspanne zwischen dem Wechseln der Verkehrsampeln in New York auf Grün und dem ersten Hupen eines Wagens hinter dir. Die neue Definition ist die Zeitspanne zwischen einem Terrorbombenanschlag und dem Pressecommuniqué einer vor einem <backlash> gegen die Muslime warnenden islamistischen Lobby.» Permanent schlechtes GewissenAngst, man könnte die Gefühle der Muslime verletzen, hat zu komischen Auswüchsen geführt. So wurden Beamte in der Sozialhilfeabteilung von Dudley in den britischen West Midlands dazu angehalten, alle Gegenstände, die Schweine darstellten, darunter Spielzeuge, Sparschweinchen, Porzellanfiguren, Kalender und eine mit den Kinderbuchfiguren Winnie the Pooh und Piglet illustrierte Papiernastuchschachtel, verschwinden zu lassen oder mindestens zuzudecken, um nicht muslimische Mitbürger vor den Kopf zu stossen. Um die Sensibilität von Leuten zu schonen, die nichts dabei finden, wenn islamistische Websites Videos von der blutigen Enthauptung von Geiseln verbreiten, üben wir in Europa eine immer einschneidendere Selbstzensur. Als Kenan Malik, ein britischer Autor indischer Herkunft, von der Zeitung Independent eingeladen wurde, über den berühmten Freidenker des 18. Jahrhunderts Tom Paine zu schreiben, setzte er seinem Essay ein Zitat aus Salman Rushdies «Satanischen Versen» voran. Damit wollte er zeigen, dass Paines Kampf gegen religiöse Popanze auch heute noch relevant ist. Das Zitat wurde von der Redaktion als «zu beleidigend für Muslime» herausgestrichen. Noch bevor die dänische Zeitung Jyllands-Posten ihre Mohammed-Zeichnungen veröffentlichte, erklärte Ian Jack, Chefredaktor der angesehenen literarischen Zeitschrift Granta: «Es gibt kein staatliches Gesetz, das eine bildliche Darstellung des Propheten verbietet. Trotzdem erwarte ich nicht, ein solches Bild zu sehen. Auf der einen Seite steht das Recht des Individuums, ein solches Bild auszustellen oder zu veröffentlichen, auf der anderen Seite die masslose Beleidigung und der Schaden an Leben und Gut, die die Ausübung eines solchen Rechtes verursachen würde. In diesem Fall verstehen wir, dass der Preis zu hoch ist, obschon wir als Ungläubige die Kränkung nicht verstehen.» Die Dschihadisten unter Europas Muslimen haben bloss Verachtung für diese Leisetreterei. Sie sehen jedes Zurückweichen vor ihren Forderungen als Zeichen der Schwäche einer dekadenten, sturmreifen Zivilisation. Wohlstand, Verweichlichung, Verfall und Auslöschung sind die Stufen des Abstiegs von Hochkulturen. «Ich habe den Triumph von Barbarei und Religion beschrieben» – mit diesen Worten fasste Edward Gibbon im 18. Jahrhundert sein monumentales Werk «The Decline and Fall of the Roman Empire» zusammen. Demographie und Überlebenswillen spielten bei dem von Gibbon beschriebenen Aufstieg des Christentums zur führenden Weltreligion die entscheidende Rolle. Der Soziologe Rodney Stark weist nach, dass im Römischen Reich die frühen Christen eine höhere Geburtenrate als die Heiden hatten, weniger Kindsmord praktizierten und weniger früh starben. Ihr demographischer Vorteil trug dazu bei, dass die marginale Jesus-Bewegung zur dominierenden kulturellen Macht des Westens wurde. Im Bett mit der höheren MachtNie seit dem Fall des Römischen Reiches hat die Welt einen Fruchtbarkeitsrückgang wie den heutigen erlebt. In seinem Buch «The Empty Cradle» zeigt Philip Longman, dass ein zunehmend grösser werdender Anteil der Weltbevölkerung von Menschen produziert wird, die glauben, dass eine höhere Macht ihnen die Fortpflanzung befiehlt. Diese höhere Macht kann «Gott, der durch Abraham, Jesus oder Mohammed oder irgendeinen Heiligen der letzten Tage spricht, oder eine totalitäre Macht» sein. Fundamentalisten jeder Art haben mehr Kinder. Wenn dieser Trend sich fortsetze, sagt Philip Longman, dann werde «die menschliche Kultur von ihrem gegenwärtigen marktorientierten, individualistischen, modernen Kurs weggetrieben und schrittweise eine von fundamentalistischen Werten dominierte marktfeindliche Kultur schaffen». In den USA haben die Staaten im Bibelgürtel die höchsten Fruchtbarkeitsraten mit dem Spitzenwert im Mormonenstaat Utah. Im laizistischen, modernen Europa sind dagegen gläubige Muslime die einzige ins Gewicht fallende fundamentalistische Bevölkerungsgruppe, die sich rasch fortpflanzt. Ihr kultureller und politischer Einfluss wird unweigerlich wachsen. Dies um so mehr, als Europa nicht nur einer demographischen Krise mit unabsehbaren Folgen entgegengeht, sondern auch in einer geistigen Krise steckt. Der amerikanische Denker David Hart glaubt, Europa leide an «metaphysischer Langweile» – an «Langeweile am Mysterium, an der Passion und dem Abenteuer des Lebens». Ein Europa ohne spirituelle Visionen und Ziele langweilt sich zu Tode. Schon 1976 sah Raymond Aron die Zeichen an der Wand. In «Plaidoyer pour l’Europe décadente» gab er der Befürchtung Ausdruck, dass Westeuropa sein Selbstvertrauen, seinen Siegeswillen, «die Fähigkeit zu kollektiver Handlung und historische Vitalität» verliere – überhaupt das, was Machiavelli «virtu» nennt. «Die Zivilisation egozentrischen Geniessens», schrieb er, «verurteilt sich selber zum Tode, wenn sie das Interesse an der Zukunft verliert.» Was Aron nicht ahnen konnte, war, dass ein wiedererwachter Islam bereitstehen würde, das Erbe einer Selbstmord begehenden humanistischen europäischen Zivilisation anzutreten. Der amerikanische Theologe George Weigel meint, dass die radikalisierten Muslime des 21. Jahrhunderts, welche die militärischen Niederlagen ihrer Glaubensbrüder bei Poitiers 732, Lepanto 1571 und Wien 1683 sowie deren Vertreibung aus Spanien 1492 bloss als temporäre Rückschläge anschauen, nicht zu Unrecht hofften, die Stunde des Endsiegs sei nahe. Wenn ein Europa, das sich selber kulturell entwaffnet hat, zu «Eurabia», einem blossen Zusatz der arabisch-islamischen Welt, werde, sagt Weigel, dann entbehre dies nicht der Ironie: «Das Drama des atheistischen Humanismus, der Europa von seiner Seele entleert, würde im Triumph eines gänzlich unhumanistischen Theismus enden. Europas gegenwärtige Krise zivilisatorischer Moral würde ihren bitteren Abschluss erreichen, wenn die Notre-Dame-Kathedrale zu einer Hagia Sophia an der Seine, eine andere grosse christliche Kirche zu einem islamischen Museum wird.» So weit wird es kaum kommen. Aber die demographischen Verschiebungen der nächsten zwei oder drei Jahrzehnte werden zu gefährlichen Konflikten, zu Bürgerkriegswirren und zu Verschiebungen in den internationalen Machtverhältnissen führen. Wie Steffen Kröhnert und der Bremer Völkermordforscher Gunnar Heinsohn aufzeigen, besteht ein direkter Zusammenhang zwischen Bevölkerungsstrukturen und gewaltsamen Konflikten. Gesellschaften mit einem sogenannten «youth bulge», das heisst mit einem grossen Anteil von jungen Männern im Alter von 15 bis 30, die keine angemessenen Positionen finden können, werden entweder die eigenen Länder destabilisieren, oder sie bilden für ihre Umgebung eine aggressive Gefahr. Bei überzähligen jungen Männern, schreibt Heinsohn, sei es «so gut wie immer zu blutigen Expansionen sowie zur Schaffung und Zerstörung von Reichen» gekommen und es spreche wenig dafür, «dass diese Sprengkraft gerade bei der grössten Sohneswelle der Geschichte ausbleiben könnte». «Entschuldigt euch nicht!»Dieser muslimischen «Sohneswelle» an der Südgrenze Europas wird eine alternde Gesellschaft in Spanien, Italien und Griechenland gegenüberstehen. Zwar sind die europäischen Gesellschaften nicht die einzigen, die an Überalterung leiden. Japans Bevölkerungszahl wird im nächsten halben Jahrhundert um einen Drittel sinken. Die erwartete Einbusse ist vergleichbar mit dem durch Pestepidemien verursachten Bevölkerungseinbruch im Europa des «schrecklichen» 14. Jahrhunderts. Selbst China wird sich bald mit den Problemen der Vergreisung herumschlagen müssen. Aber das Bevölkerungsgefälle zu den benachbarten Kontinenten Afrika und Asien macht Europas Lage besonders kritisch. Die internationalen Machtverhältnisse werden sich verschieben. Steffen Kröhnert kann sich vorstellen, dass die Länder mit stark wachsenden und jugendlichen Bevölkerungen – und dies sind die muslimischen Länder von Pakistan bis Marokko – «natürlich immer mehr Ansprüche stellen werden – Ansprüche auf Zugang zu Ressourcen und zu internationalen Machtpositionen – und dass diese alternden Gesellschaften dann Zugeständnisse werden machen müssen. Man kann nicht mit einem grossen Drohpotenzial auftreten, wenn man eine stark alternde Bevölkerung hat.» Wenn das Potenzial, überhaupt Streitkräfte zu stellen, nicht mehr da ist, wie können sich die politischen Eliten in Europa terroristischen oder künftigen militärischen Drohungen von Ländern mit grossem Jugendanteil entgegenstellen? In den kommenden 15 Jahren werden – gemäss Heinsohn – in den Entwicklungsländern etwa 720 Millionen Jungen ins kampffähige Alter kommen, von denen «mindestens 300 Millionen – zweite bis vierte Söhne – in die Territorien der entwickelten Welt drängen». Diesen 300 Millionen entschlossenen, harten, wagemutigen jungen Männern werden 100 Millionen zu Frieden und Gewaltlosigkeit erzogene Gleichaltrige in der entwickelten Welt gegenüberstehen. Die Hereindrängenden haben nichts zu verlieren, die Einheimischen ihren Wohlstand und Komfort. Der Streit um die Mohammed-Karikaturen zeigt, welchen Druck islamistische Gruppen und islamische Staaten schon heute ausüben können. Gefährdet ist die grosse Leistung der Aufklärung: die Gedanken- und Redefreiheit. Voltaire und seinen Mitstreitern gelang es, die Macht der Kirche über das Denken der Menschen zu brechen. Jetzt fordern muslimische Vordenker eine Beschränkung der Redefreiheit. Ein zentraler Wert des aufgeklärten Europas steht auf dem Spiel. In einem diese Woche im Spiegel online erschienenen Essay sagt der in pakistanischen Koranschulen erzogene, heute im Westen lebende Schriftsteller Ibn Warraq klar, worum es geht: «Ohne das Recht der freien Meinungsäusserung kann eine Demokratie nicht lange überleben – ohne die Freiheit zu diskutieren, unterschiedlicher Meinung zu sein, sogar zu beschimpfen und zu beleidigen. Es ist eine Freiheit, der die islamische Welt so bitter entbehrt, und ohne die der Islam unangefochten verharren wird in seiner dogmatischen, fanatischen, mittelalterlichen Burg; verknöchert, totalitär und intolerant. Ohne fundamentale Freiheit wird der Islam weiterhin das Denken, Menschenrechte, Individualität, Originalität und Wahrheit ersticken. Solange wir keine Solidarität mit den dänischen Karikaturisten zeigen, unverhohlene, laute und öffentliche Solidarität, so lange werden diejenigen Kräfte die Oberhand gewinnen, die versuchen, dem freien Westen eine totalitäre Ideologie aufzuzwingen – die Islamisierung Europas hätte dann in Raten begonnen. Entschuldigt euch also nicht!» Die Machtverschiebung zugunsten muslimischer Gesellschaften und der wachsende Anteil junger, von ihrer Religion überzeugter Muslime in den europäischen Ländern sollten eigentlich vor allem die politische Linke aus dem Busch klopfen. Ihre Ziele und Ideale laufen am ehesten Gefahr, unter die Räder islamistischer Intoleranz zu kommen. Der konservative Kommentator Mark Steyn formulierte dies so: «Wieso denn, wenn eure grossen Anliegen Feminismus, Abtreibung und Schwulenrechte sind, seid ihr euch so sicher, dass der Kult der Toleranz überlebt, wenn der grösste demographische Anteil in eurer Gesellschaft frisch-fröhlich intolerant ist?» Kopftuch für alle?Schon heute werden in niederländischen Stadtvierteln mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit Juden, Homosexuelle und «unzüchtig» gekleidete Frauen von jungen Muslimen bedroht. Werden sich unter zunehmendem islamischem Druck unsere Sitten weiter verändern? Werden Buchhandlungen islamkritische Werke weiterhin verkaufen dürfen? Wird man den Alkoholausschank beschränken? Werden sich unsere Frauen dezenter kleiden müssen? Wird es sich eine französische Regierung noch erlauben können, muslimischen Schülerinnen das Tragen des Kopftuchs zu verbieten? Wird es unser Fernsehen wagen, Islamkritiker in den «Zischtigsclub» und die «Arena» einzuladen? Weil die zu erwartenden gewaltigen und vermutlich leider auch gewaltsamen Auswirkungen des Bevölkerungsschwunds in Europa sich kaum schon in den nächsten Jahren bemerkbar machen werden, stecken wir – Politiker und Öffentlichkeit – den Kopf in den Sand. Während die Lunte zum Brand von Europa bereits glimmt, schwätzen wir über alles andere – wir ereifern uns über Feinstaub, Steuerwettbewerb, Pitbulls, die Privatisierung der Swisscom und weitere der von Toynbee beschriebenen «oberflächlichen, Schlagzeilen machenden Dinge». Arnold Toynbee hat auch gesagt, dass Zivilisationen nicht ermordet werden, sondern Selbstmord begehen. Europa ist auf dem besten Weg dazu. Hier beginnt der aufgeklärte SektorBesteht die Hoffnung, dass die jahrtausendealte europäische Zivilisation ihren anscheinend vorprogrammierten Selbstmord abwenden kann? Ausgeschlossen ist es nicht. Drei Szenarien kann man sich vorstellen, die den Niedergang bremsen oder aufhalten könnten. Erstens müsste ein geistiger Schub – vergleichbar etwa mit den grossen religiösen Erweckungsbewegungen, wie sie England und die USA im 19. Jahrhundert erlebten – durch Europa gehen, der eine höhere Geburtenrate begünstigen würde. Zweitens müssten die europäischen Staaten durch eine die nichtmuslimischen Kulturkreise bevorzugende Einwanderungspolitik eine grössere kulturelle Diversifizierung erreichen. Drittens müsste es den europäischen Gesellschaften durch sozialpolitische Massnahmen gelingen, die einwandernden Muslime von der Gültigkeit der aufgeklärten Moderne zu überzeugen und sie kulturell zu assimilieren. Dies würde der europäischen Kultur ihre Souveränität und den europäischen Staaten ihre Identität bewahren. Voraussetzung allerdings ist, dass Europa sein Selbstvertrauen und den Willen zur Selbstbehauptung wiedererlangt. Statt an den Amerikanern herumzumäkeln, täten wir gut daran, von der immer noch erfolgreichen Schmelztiegelpolitik der USA zu lernen. Die USA mit einer Gesamtfruchtbarkeitsrate von 2,1 und einer ungebrochenen Einwanderung werden im Gegensatz zu Europa auch bis 2050 kontinuierlich wachsen. In europäischen Publikationen formulierte Prophezeiungen über den Niedergang der Supermacht USA sind reines Wunschdenken. Über einen Niedergang der europäischen Zivilisationen könnten sich auch die Amerikaner nicht freuen. In einem «Brief an die Europäer» erinnert der amerikanische Historiker Victor Davis Hanson daran, dass Europa die Quelle der westlichen Tradition ist, wie dies am offensichtlichsten Kulturgüter wie die Akropolis, das Pantheon, die Uffizien oder der Vatikan zeigten: «Wir Amerikaner müssen gestehen, dass die <grossen Bücher> – wir selber haben bisher noch keinen Homer, Vergil, Dante, Shakespeare oder Locke hervorgebracht, von da Vinci, Mozart oder Newton gar nicht zu reden – und die <grossen Ideen> des Westens von der Demokratie zum Kapitalismus bis zu den Menschenrechten alle auf eurem Kontinent gewachsen sind.» Gerade deshalb, fährt Hanson fort, klammerten sich die Amerikaner an die Hoffnung, dass Europa «in der elften Stunde» aufwachen werde, sein Erbe wieder entdecke, um zusammen mit Amerika «die Idee des Westens gegen die neueste illiberale Geissel des islamischen Faschismus» zu verteidigen. Hanson schliesst mit den Worten: «Die Geschichte verzeiht nicht. Niemand erhält einen Freibrief einzig aufgrund des Dunstes vergangener Glorie. Entweder wird eure Wirtschaft sich erneuern, eure Bevölkerung sich vervielfachen und eure Bürgerschaft sich verteidigen – oder eben nicht. Und wenn nicht, wird das Europa, das wir gekannt haben, sterben – zur grossen Freude der Islamisten und zur schrecklichen Trauer Amerikas.» www.weltwoche.ch Hanspeter Born 09.02.2006
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