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14.2.06

Neue Feudalsysteme

Jean Zieglers unermüdlicher Kampf: Der UNO-Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung prangert das «Imperium der Schande» an

Dass wir nicht am Beginn eines neuen goldenen Zeitalters stehen, steht fest – obwohl die Unternehmensgewinne der Grossen boomen. Oder weil? Aber deshalb von «Refeudalisierung» zu sprechen? Der Schweizer Jean Ziegler macht es in seinem neuen Buch «Das Imperium der Schande» und sagt: «Die neuen kapitalistischen Feudalsysteme besitzen nunmehr eine Macht, die kein Kaiser, kein König, kein Papst vor ihnen je besessen hat.» Wogegen das Elend der Armen immer krasser wird: 100000 Menschen sterben täglich an Hunger oder dessen Folgekrankheiten.

Ziegler begründet seine Behauptung aus seinem reichen Erfahrungsschatz als langjähriger UN-Mitarbeiter, zuletzt als Sonderberichterstatter für das Recht auf Nahrung. Und nutzt seine intime Kenntnis des Geschäftsgebahrens solcher Schweizer Grosskonzerne wie Nestlé und Novartis sowie der Grossbanken seines Heimatlandes. Im Grunde sagt er dabei nichts total Neues, aber wie er es in seiner bekannt harschen, rücksichtslosen Sprache benennt und zu einer schlüssigen Gesamtschau verknüpft, das nimmt den Leser schon mit. Die wahren Massenvernichtungswaffen sind für ihn Verschuldung und Hunger – nicht die vergeblich bei Saddam Hussein «gesuchten».

Ganz konkret wird Ziegler in den beiden Teilen zu Brasilien und Äthiopien. In letzterem hat sich besonders die Lage der Millionen Kaffeebauern dramatisch verschlimmert: Die Aufkaufpreise sind auf rund ein Drittel des Wertes von vor 1990 gefallen. Dies aber weniger durch «blindes Wirken» der Marktkräfte, sondern weil die Grosskonzerne 1989 die internationalen Kaffeevereinbarungen liquidierten, die vorher stabile Preise sicherten. Ähnlich verheerend wirkte die aggressive Kampagne von Nestlé in Afrika zur Etablierung von Milchpulver als Babynahrung. Und ebenso bescherte die stark gepushte Markteinführung von Flaschentrinkwasser, z.B. in Bangladesh, Nestlé riesige Profite.

Einen der raren Hoffnungsträger sieht Ziegler in Brasiliens Präsidenten Inacio Lula da Silva, der mit Mut und Geschick ein Null-Hunger-Programm gestartet hat. Wie weit er damit kommt, wird allerdings davon abhängen, ob es gelingt, die «widerlichen Schulden» zu annullieren, die z.B. während der Militärdiktatur zwischen 1964 und 1985 aufgelaufen sind. Für das vielen halbherzig erscheinende Agieren «Lulas» wird angedeutet, dass dem brasilianischen Staatschef sonst vielleicht das Schicksal seines chilenischen Amtsvorgängers Salvador Allende droht ...

Für das Elend der Armen prangert Ziegler die neuen Feudalherren, die «Fürsten» der internationalen Konzerne an. Und doch weiss der Schweizer: «Sich im Namen eines persönlichen Humanismus vom allerheiligsten Prinzip der Gewinnmaximierung zu entfernen, käme beruflichem Selbstmord gleich. Zahlreiche Kosmokraten [so nennt Ziegler sie] leben in diesem Dilemma.» Was also angesichts solcher Verstrickung tun, wenn er seiner Vision einer alle Menschen umfassenden sozialen Gerechtigkeit, eines universellen Anspruchs auf Glück treu bleiben will? Die kleine Münze ist Aufklären, «die Praktiken der Herrscher transparent machen ... so fördert man beim Leser ein Gefühl für Gerechtigkeit», aus dem «vielleicht eines Tages der Aufstand des neuen Bewusstseins in den Ländern des Nordens hervorgehen» wird.

Schliesslich kommt Zieglers inniges Verhältnis zum Geist der Französischen Revolution zu Tragen: «Man muss die unsichtbare Hand des Marktes zermalmen» und «... die Revolution noch einmal von vorn beginnen», weil der Widerspruch «zwischen der planetarischen Gerechtigkeit und der Feudalmacht ... radikal» ist.

Als Fazit bleibt: Ein in der Diagnose ausserordentlich starkes, überzeugendes Buch. Und zugleich eine Herausforderung an den Leser, eigene Schlussfolgerungen zu ziehen – zusammen mit der Entscheidung, auf welcher Seite er stehen will, auf der Seite der Erniedrigten oder auf der der Mörder. So krass formulierte es Ziegler im vergangenen Jahr in einem Film. Für ihn selbst ist es entschieden: Nie wieder auf Seiten der Mörder!

http://www.jungewelt.de Werner Schmiedecke 13.02.2006

Jean Ziegler: «Das Imperium der Schande». Der Kampf gegen Armut und Unterdrückung». C. Bertelsmann Verlag, 320 Seiten, 19,90 Euro

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