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10.2.06

Abendland unter

Nach den Karikaturen kamen die Bücklinge, im Zusammenprall mit dem Islam werden zentrale Werte der Aufklärung geopfert. Wie schwach ist Europa eigentlich? Überalterung, Kindermangel und fehlendes Selbstbewusstsein – der alte Kontinent zeigt alle Symptome einer untergehenden Kultur.

Wenn wir im Stau stecken, uns durch das Gewühl im Warenhaus ringen, im Fernsehen die von Kindern wimmelnden Elendsquartiere der Drittweltmetropolen sehen, haben wir den Eindruck, dass die «Bevölkerungsbombe», die Paul Ehrlich in seinem Bestseller von 1968 prophezeite, losgegangen ist. Hartnäckig hält sich das Gefühl, dass der Globus hoffnungslos übervölkert ist und dass das Zuviel an Menschen die Erde ruiniert. Wir machen uns Sorgen über Folgen der Übervölkerung, Hunger, eine drohende Klimakatastrophe, den Ansturm von Migranten, das Schwinden der Rohstoffe. Gemäss statistischen Berechnungen wird die Weltbevölkerung, die heute 6,5 Milliarden beträgt, im Jahr 2045 die 9-Milliarden-Grenze überschreiten.

Was uns in der Schweiz und in Europa im Jahr 2006 jedoch zu denken geben sollte, ist nicht die Zu-, sondern die Abnahme der Bevölkerung und die tektonischen Verschiebungen in der Bevölkerungsstruktur der Welt. Weil der in Europa seit drei Jahrzehnten registrierte ständige Geburtenrückgang sich bloss in den Entbindungskliniken praktisch auswirkt und im Alltag nicht gespürt wird, halten wir die bevorstehende unaufhaltsame Schrumpfung der Bevölkerung für kein dringliches Problem – eher gar für einen Segen. Die Zukunft wird uns eines Besseren belehren.

Der englische Historiker Arnold Toynbee hat geschrieben, dass oberflächliche, Schlagzeilen machende Dinge unsere Aufmerksamkeit von den «langsameren, ungreifbaren, unwägbaren Bewegungen, die unter der Oberfläche arbeiten und in die Tiefen vordringen», ablenken. Doch es sind diese «tieferen, langsameren Bewegungen», die Geschichte machen, während die «sensationellen, vorübergehenden Ereignisse» in Vergessenheit geraten.

Zu alt zum Überleben

Vor hundert Jahren lebte ein Viertel der Weltbevölkerung in Europa, 1950 betrug der europäische Anteil noch 21,7%, heute ist er bei 11,5%, 2050 wird er noch bei 7% sein. Während die europäische Bevölkerung sich verringert, steigt diejenige der islamischen Länder. Innert fünf Generationen (von 1900 bis 2000) hat sich die Zahl der Muslime auf der Welt von 150 Millionen auf 1200 Millionen verachtfacht. Die Muslime vermehrten sich im letzten Jahrhundert doppelt so schnell wie der Rest der Welt.

Inzwischen erlebt Europa insgesamt, Süd- und Osteuropa speziell, einen dramatischen Bevölkerungsschwund. In Italien, in unserer Vorstellung immer noch das kinderreiche Land, in dem die Bambini verhätschelt werden, sind heute bloss noch 13,9% der Gesamtbevölkerung Kinder (unter 15), während die Alten (über 65-Jährigen) bereits 19,4% ausmachen. Im Vergleich: In Algerien gibt es 29% Kinder, 4,7% Alte, in Äthiopien 43,9% Kinder, 2,7% Alte; in Gaza gar 48,5% Kinder und nur 2,6% Alte. (Schweiz: 16,6% unter 15, 15,4% über 65).

Italien ist heute das «älteste» Land Europas. Letztes Jahr sind mehr Italiener gestorben als auf die Welt gekommen. Nur die Einwanderung von geschätzten 118000 hielt die Bevölkerungszahl stabil. In den sechziger Jahren brachten italienische Frauen jährlich eine Million Kinder zur Welt, seit den neunziger Jahren sind es noch eine halbe Million jährlich. Dies bedeutet, dass schon in zehn Jahren die Zahl der potenziellen Mütter auf die Hälfte zurückgegangen sein wird. Der Bevölkerungsrückgang wird sich beschleunigen. Bis 2050 rechnet man mit einer Schrumpfung der Gesamteinwohnerzahl Italiens von heute 58,1 Millionen auf 52,2 – sogar wenn die Einwanderung anhält und die Fertilität oder Gesamtfruchtbarkeitsrate von heute 1,28 Kindern pro Frau wieder, wie heute im «fruchtbaren» Skandinavien oder in Frankreich, auf 1,7 oder 1,9 steigt. Um die Bevölkerungszahl (ohne Einwanderung) stabil zu halten, braucht es eine Fertilität von 2,1, die heute in Europa nirgends erreicht wird.

Schon nach dem 1. Weltkrieg mit seinen Millionen von Toten warnten Forscher und Politiker vor einer bevorstehenden Entvölkerung und ihren möglichen Folgen für die westliche Zivilisation. Für den Geschichtsphilosophen Oswald Spengler waren Hochkulturen «wie die Blumen auf dem Felde». Sie blühten auf, reiften und welkten. Das «Abendland» hatte gemäss Spengler seinen Zenit überschritten und ging unentrinnbar dem «Untergang» entgegen.

Der apokalyptische Schwarzseher täuschte sich. Nach einem durch Stalins und Hitlers Völkermorde und den 2. Weltkrieg verursachten Bevölkerungsrückgang setzte ein unerwarteter Baby-Boom ein, der bis in die frühen sechziger Jahre anhielt. Es waren nun die Probleme der Übervölkerung und der Umweltzerstörung, die Öffentlichkeit und Politiker alarmierten. Niemand störte es, als die Gesamtfruchtbarkeitsraten in den europäischen Ländern unter das Ersatzniveau von 2,1 sanken – im Gegenteil. Keiner Regierung fiel es ein, wie dies in den dreissiger Jahren die italienischen und deutschen Diktaturen ebenso wie die französischen und schwedischen Demokratien taten, aktiv «Natalismus» oder Geburtenförderungspolitik zu betreiben. Staatliche Propaganda, die Frauen zum Gebären auffordert, gilt als anrüchig. Es erinnert an den rassistischen Fortpflanzungsfimmel der Nazis. Selbst eine aktive Familienpolitik, die Betreuungsmöglichkeiten schafft und das Kinderkriegen steuerlich begünstigt, hatte in den meisten europäischen Staaten noch bis vor kurzem einen niedrigen Stellenwert.

Der Preis des Wohlstands

In der Vergangenheit verursachten Hungersnot, Epidemien, Kriege oder andere vorübergehende Katastrophen einen Rückgang der Bevölkerung. Heute sind es die sichersten und wohlhabendsten Länder, deren Einwohnerzahl schrumpft und in denen Kinder rar sind. Modernität ist der Hauptgrund für sinkende Geburtenraten. In unseren Gesellschaften haben die am besten ausgebildeten und materiell erfolgreichsten Mitglieder die wenigsten Kinder.

Wenn ein Evolutionsbiologe beim Studium einer anderen Gattung feststellen würde, dass diejenigen Männchen und Weibchen, die bei der Nahrungssuche am erfolgreichsten sind, hohe Unfruchtbarkeitsraten aufweisen, müsste er daraus schliessen, dass diese Gattung im Begriff ist auszusterben oder vor einer dramatischen Mutation steht. Sind die menschlichen Populationen in Europa eine glückliche Ausnahme?

Ein demographisches Vakuum wird aufgefüllt. Einzig Einwanderung kann verhüten, dass die Abwärtsspirale in der europäischen Bevölkerungsentwicklung sich immer schneller dreht. Die EU braucht jährlich 1,6 Millionen Einwanderer, um die im arbeitsfähigen Alter stehende Bevölkerung auf gleichem Niveau zu halten. Um 2050 wird in Italien und Spanien das Verhältnis von Erwerbstätigen zu Pensionierten 1:1 sein. Im europäischen Durchschnitt (zu dem die Schweiz gehört) werden vier Erwerbstätige für drei Pensionierte aufkommen müssen.

Im südlichen «Hinterland» Europas, dem Gürtel von Pakistan bis Marokko, wo die Bevölkerung vorläufig immer noch stark zunimmt, steht ein riesiges Reservoir von in ihren Ländern überschüssigen, beschäftigungslosen jungen Menschen bereit, die darauf brennen, die Bevölkerungslücken in Europa zu schliessen. Fast alle sind Muslime. Bereits heute leben in der EU schätzungsweise 20 Millionen oder 5% Muslime. Hält der Trend an, werden es 2020 schon 10% sein. 7% aller letztes Jahr in Europa geborenen Kinder sind muslimisch, in einer Stadt wie Brüssel sind es gar 57%. Schätzungsweise ein Viertel aller französischen Schüler sind schon heute Muslime. Der Historiker und Islamforscher Bernard Lewis fasst die Entwicklung so zusammen: «Europa wird Teil des arabischen Westens sein, des Maghrebs. Dafür sprechen Migration und Demographie. Europäer heiraten spät und haben keine oder nur wenige Kinder. Aber es gibt die starke Immigration: Türken in Deutschland, Araber in Frankreich und Pakistaner in England. Diese heiraten früh und haben viele Kinder. Nach den aktuellen Trends wird Europa spätestens Ende des 21. Jahrhunderts muslimische Mehrheiten in der Bevölkerung haben.»

Secondos träumen vom Kalifat

Diese Entwicklung wird die europäische, «abendländische» Kultur verändern. Steffen Kröhnert vom Berlin-Institut für Bevölkerung und Entwicklung gibt ein Beispiel: «Schauen Sie sich eine Region wie das Ruhrgebiet an. Dort werden schon 2010 etwa 50 Prozent der unter 30-Jährigen einen Immigrationshintergrund haben, weil die Deutschen kaum Kinder kriegen und aus den Städten weggezogen sind und die, die zurückbleiben, viele Kinder kriegen. Natürlich sind das Migranten. Wenn man davon ausgeht, dass jüngere Menschen unter 30, 35 viel aktiver in die Gesellschaft wirken als Ältere und Rentner, kann man sich vorstellen, dass dies die öffentliche Kultur verändert, weil diese 50 Prozent Ansprüche stellen, ihre Kultur in dem Land zu verankern.»

Während die grosse Mehrheit der Einwanderer damit zufrieden ist, ein Auskommen zu finden, Familien zu gründen und im Gastland heimisch zu werden, haben junge, von einer islamistischen Ideologie beseelte Hitzköpfe der zweiten Generation oft ehrgeizigere Ziele. Diese von radikalen Imamen oder Websites indoktrinierten, aus Westasien oder Nordafrika stammenden Secondos träumen von der Wiedererrichtung des Kalifats, von der Vereinigung aller Muslime unter einer Flagge. Deren Extremismus ist nicht bloss eine Reaktion ausgegrenzter Unterschichtler. Unter den Neoislamisten finden sich viele erfolgreich integrierte Söhne und Töchter von Emigranten, wie der niederländische Informatikstudent Mohammed Bouyeri, Kind mausarmer analphabetischer Einwanderer aus Marokko und Mörder des Künstlers Theo van Gogh.

Letzten Monat berichtete die Washington Post über Hizb ut-Tahrir, eine in 40 Ländern aktive Ablegerorganisation der Muslimbruderschaft, deren erklärtes Ziel die Islamisierung der Welt ist. Der Artikel beschreibt, wie 800 junge, gutgekleidete Dänen, meist muslimische Secondos, an einem Sonntagmorgen sich vier Stunden lang Vorträge anhörten, in denen man ihnen erklärte, wie die islamische Welt durch westliche Ideen wie Nationalismus und Demokratie verdorben wurde. Grausliche Bilder getöteter irakischer Kinder wurden an die Wand projiziert, und Fadi Adbullatif, ein dänischer Sprecher von Hizb ut-Tahrir, rief aus: «Niemand kann bezweifeln, dass der sogenannte Krieg gegen den Terrorismus ein Krieg gegen den Islam ist. Der islamische Staat ist der einzige Schutz, der einzige Schild für Muslime.» Am Ende der Veranstaltung, die mit einem machtvollen Chor «Allahu akbar!» endete, blickte der im Libanon geborene Muziz Abdullah in den bis auf den letzten Platz besetzten Saal und sagte dem Reporter: «Vor zehn Jahren war es völlig unrealistisch, zu denken, dass es je ein Kalifat geben würde. Heute glauben die Leute, dass es in wenigen Jahren geschehen kann.»

Wenn nicht das Kalifat angestrebt wird, dann mindestens die Ausdehnung der islamischen Scharia. Laut einer Meinungsumfrage von 2004 wünschen 60% der britischen Muslime (1,6 Millionen), unter dem religiösen Gesetz der Scharia und nicht dem althergebrachten englischen Recht (Common Law) zu leben.

In allen Städten und Gegenden Europas leben junge Muslime, die im Islam einen neuen Lebenssinn entdeckt haben, die an den Dschihad, den heiligen Krieg, glauben und bereit sind, für ihre Sache zu töten und zu sterben. Der radikale Islam, sagt Bernard Lewis, habe eine grosse Anziehungskraft auf junge Menschen, da er ihnen Überzeugungen und Gewissheiten vermittle, ihnen die Erfüllung einer Mission gebe.

Mehr noch als die Anschläge von Madrid und London ist die Ermordung des Filmemachers Theo van Gogh in Amsterdam ein Vorbote dessen, was auf uns zukommen könnte. Die vorsätzliche Tötung oder bereits schon die Einschüchterung von im Rampenlicht stehenden Personen, die sich der Ausbreitung des Islams in Europa widersetzen oder einfach die Gefühle der Muslime verletzt haben, ist eine wirkungsvolle Taktik zur Aufweichung des Bürgersinns der einheimischen Bevölkerungen. Im Falle Theo van Gogh schoben wohlmeinende Zeitgenossen und wohlgesinnte Medienleute dem provozierenden Filmemacher die Schuld für die eigene Ermordung zu. Er hätte eben die Muslime nicht beleidigen dürfen. Wie in Frischs Theaterstück neigen Biedermänner dazu, sich einnistende Brandstifter gewähren zu lassen.

Kampfbegriff «Islamophobie»

Eine andere, subtilere Taktik der Islamisten besteht darin, Kritiker ihres Tuns, Redens und Denkens des Rassismus und der Islamophobie zu bezichtigen. Sie stellen sich selber als Opfer westlicher kolonialistischer Denkweise dar und erzeugen dabei bei der einheimischen Bevölkerung Schuldgefühle, die den Widerstandswillen ebenfalls schwächen. Der gegenwärtig lodernde Propagandakrieg um die dänischen Mohammed-Karikaturen zeigt, wie eine gutorganisierte Kampagne – diplomatische Initiativen, Demonstrationen, Lügen, Morddrohungen, Verbrennung von Fahnen, Boykotte, Angriffe auf Botschaften – europäische Regierungen und Bevölkerungen in die Defensive drängen kann.

Nach den Bombenanschlägen in London vom 7. Juli letzten Jahres beeilten sich nicht nur muslimische Notabeln, sondern auch britische Politiker, vor einem «backlash» gegen die muslimische Bevölkerung zu warnen. Für viele war weniger die Ermordung braver, ihrer Arbeit nachgehender Leute tadelnswert als die daraus möglicherweise resultierende, hypothetische «Islamophobie». Wie der kanadische Kommentator Mark Steyn sarkastisch bemerkte: «Die alte Definition einer Nanosekunde war die Zeitspanne zwischen dem Wechseln der Verkehrsampeln in New York auf Grün und dem ersten Hupen eines Wagens hinter dir. Die neue Definition ist die Zeitspanne zwischen einem Terrorbombenanschlag und dem Pressecommuniqué einer vor einem <backlash> gegen die Muslime warnenden islamistischen Lobby.»

Permanent schlechtes Gewissen

Angst, man könnte die Gefühle der Muslime verletzen, hat zu komischen Auswüchsen geführt. So wurden Beamte in der Sozialhilfeabteilung von Dudley in den britischen West Midlands dazu angehalten, alle Gegenstände, die Schweine darstellten, darunter Spielzeuge, Sparschweinchen, Porzellanfiguren, Kalender und eine mit den Kinderbuchfiguren Winnie the Pooh und Piglet illustrierte Papiernastuchschachtel, verschwinden zu lassen oder mindestens zuzudecken, um nicht muslimische Mitbürger vor den Kopf zu stossen.

Um die Sensibilität von Leuten zu schonen, die nichts dabei finden, wenn islamistische Websites Videos von der blutigen Enthauptung von Geiseln verbreiten, üben wir in Europa eine immer einschneidendere Selbstzensur. Als Kenan Malik, ein britischer Autor indischer Herkunft, von der Zeitung Independent eingeladen wurde, über den berühmten Freidenker des 18. Jahrhunderts Tom Paine zu schreiben, setzte er seinem Essay ein Zitat aus Salman Rushdies «Satanischen Versen» voran. Damit wollte er zeigen, dass Paines Kampf gegen religiöse Popanze auch heute noch relevant ist. Das Zitat wurde von der Redaktion als «zu beleidigend für Muslime» herausgestrichen.

Noch bevor die dänische Zeitung Jyllands-Posten ihre Mohammed-Zeichnungen veröffentlichte, erklärte Ian Jack, Chefredaktor der angesehenen literarischen Zeitschrift Granta: «Es gibt kein staatliches Gesetz, das eine bildliche Darstellung des Propheten verbietet. Trotzdem erwarte ich nicht, ein solches Bild zu sehen. Auf der einen Seite steht das Recht des Individuums, ein solches Bild auszustellen oder zu veröffentlichen, auf der anderen Seite die masslose Beleidigung und der Schaden an Leben und Gut, die die Ausübung eines solchen Rechtes verursachen würde. In diesem Fall verstehen wir, dass der Preis zu hoch ist, obschon wir als Ungläubige die Kränkung nicht verstehen.» Die Dschihadisten unter Europas Muslimen haben bloss Verachtung für diese Leisetreterei. Sie sehen jedes Zurückweichen vor ihren Forderungen als Zeichen der Schwäche einer dekadenten, sturmreifen Zivilisation.

Wohlstand, Verweichlichung, Verfall und Auslöschung sind die Stufen des Abstiegs von Hochkulturen. «Ich habe den Triumph von Barbarei und Religion beschrieben» – mit diesen Worten fasste Edward Gibbon im 18. Jahrhundert sein monumentales Werk «The Decline and Fall of the Roman Empire» zusammen. Demographie und Überlebenswillen spielten bei dem von Gibbon beschriebenen Aufstieg des Christentums zur führenden Weltreligion die entscheidende Rolle. Der Soziologe Rodney Stark weist nach, dass im Römischen Reich die frühen Christen eine höhere Geburtenrate als die Heiden hatten, weniger Kindsmord praktizierten und weniger früh starben. Ihr demographischer Vorteil trug dazu bei, dass die marginale Jesus-Bewegung zur dominierenden kulturellen Macht des Westens wurde.

Im Bett mit der höheren Macht

Nie seit dem Fall des Römischen Reiches hat die Welt einen Fruchtbarkeitsrückgang wie den heutigen erlebt. In seinem Buch «The Empty Cradle» zeigt Philip Longman, dass ein zunehmend grösser werdender Anteil der Weltbevölkerung von Menschen produziert wird, die glauben, dass eine höhere Macht ihnen die Fortpflanzung befiehlt. Diese höhere Macht kann «Gott, der durch Abraham, Jesus oder Mohammed oder irgendeinen Heiligen der letzten Tage spricht, oder eine totalitäre Macht» sein.

Fundamentalisten jeder Art haben mehr Kinder. Wenn dieser Trend sich fortsetze, sagt Philip Longman, dann werde «die menschliche Kultur von ihrem gegenwärtigen marktorientierten, individualistischen, modernen Kurs weggetrieben und schrittweise eine von fundamentalistischen Werten dominierte marktfeindliche Kultur schaffen».

In den USA haben die Staaten im Bibelgürtel die höchsten Fruchtbarkeitsraten mit dem Spitzenwert im Mormonenstaat Utah. Im laizistischen, modernen Europa sind dagegen gläubige Muslime die einzige ins Gewicht fallende fundamentalistische Bevölkerungsgruppe, die sich rasch fortpflanzt. Ihr kultureller und politischer Einfluss wird unweigerlich wachsen.

Dies um so mehr, als Europa nicht nur einer demographischen Krise mit unabsehbaren Folgen entgegengeht, sondern auch in einer geistigen Krise steckt. Der amerikanische Denker David Hart glaubt, Europa leide an «metaphysischer Langweile» – an «Langeweile am Mysterium, an der Passion und dem Abenteuer des Lebens». Ein Europa ohne spirituelle Visionen und Ziele langweilt sich zu Tode. Schon 1976 sah Raymond Aron die Zeichen an der Wand. In «Plaidoyer pour l’Europe décadente» gab er der Befürchtung Ausdruck, dass Westeuropa sein Selbstvertrauen, seinen Siegeswillen, «die Fähigkeit zu kollektiver Handlung und historische Vitalität» verliere – überhaupt das, was Machiavelli «virtu» nennt. «Die Zivilisation egozentrischen Geniessens», schrieb er, «verurteilt sich selber zum Tode, wenn sie das Interesse an der Zukunft verliert.» Was Aron nicht ahnen konnte, war, dass ein wiedererwachter Islam bereitstehen würde, das Erbe einer Selbstmord begehenden humanistischen europäischen Zivilisation anzutreten.

Der amerikanische Theologe George Weigel meint, dass die radikalisierten Muslime des 21. Jahrhunderts, welche die militärischen Niederlagen ihrer Glaubensbrüder bei Poitiers 732, Lepanto 1571 und Wien 1683 sowie deren Vertreibung aus Spanien 1492 bloss als temporäre Rückschläge anschauen, nicht zu Unrecht hofften, die Stunde des Endsiegs sei nahe. Wenn ein Europa, das sich selber kulturell entwaffnet hat, zu «Eurabia», einem blossen Zusatz der arabisch-islamischen Welt, werde, sagt Weigel, dann entbehre dies nicht der Ironie: «Das Drama des atheistischen Humanismus, der Europa von seiner Seele entleert, würde im Triumph eines gänzlich unhumanistischen Theismus enden. Europas gegenwärtige Krise zivilisatorischer Moral würde ihren bitteren Abschluss erreichen, wenn die Notre-Dame-Kathedrale zu einer Hagia Sophia an der Seine, eine andere grosse christliche Kirche zu einem islamischen Museum wird.»

So weit wird es kaum kommen. Aber die demographischen Verschiebungen der nächsten zwei oder drei Jahrzehnte werden zu gefährlichen Konflikten, zu Bürgerkriegswirren und zu Verschiebungen in den internationalen Machtverhältnissen führen. Wie Steffen Kröhnert und der Bremer Völkermordforscher Gunnar Heinsohn aufzeigen, besteht ein direkter Zusammenhang zwischen Bevölkerungsstrukturen und gewaltsamen Konflikten. Gesellschaften mit einem sogenannten «youth bulge», das heisst mit einem grossen Anteil von jungen Männern im Alter von 15 bis 30, die keine angemessenen Positionen finden können, werden entweder die eigenen Länder destabilisieren, oder sie bilden für ihre Umgebung eine aggressive Gefahr. Bei überzähligen jungen Männern, schreibt Heinsohn, sei es «so gut wie immer zu blutigen Expansionen sowie zur Schaffung und Zerstörung von Reichen» gekommen und es spreche wenig dafür, «dass diese Sprengkraft gerade bei der grössten Sohneswelle der Geschichte ausbleiben könnte».

«Entschuldigt euch nicht!»

Dieser muslimischen «Sohneswelle» an der Südgrenze Europas wird eine alternde Gesellschaft in Spanien, Italien und Griechenland gegenüberstehen. Zwar sind die europäischen Gesellschaften nicht die einzigen, die an Überalterung leiden. Japans Bevölkerungszahl wird im nächsten halben Jahrhundert um einen Drittel sinken. Die erwartete Einbusse ist vergleichbar mit dem durch Pestepidemien verursachten Bevölkerungseinbruch im Europa des «schrecklichen» 14. Jahrhunderts. Selbst China wird sich bald mit den Problemen der Vergreisung herumschlagen müssen. Aber das Bevölkerungsgefälle zu den benachbarten Kontinenten Afrika und Asien macht Europas Lage besonders kritisch. Die internationalen Machtverhältnisse werden sich verschieben.

Steffen Kröhnert kann sich vorstellen, dass die Länder mit stark wachsenden und jugendlichen Bevölkerungen – und dies sind die muslimischen Länder von Pakistan bis Marokko – «natürlich immer mehr Ansprüche stellen werden – Ansprüche auf Zugang zu Ressourcen und zu internationalen Machtpositionen – und dass diese alternden Gesellschaften dann Zugeständnisse werden machen müssen. Man kann nicht mit einem grossen Drohpotenzial auftreten, wenn man eine stark alternde Bevölkerung hat.» Wenn das Potenzial, überhaupt Streitkräfte zu stellen, nicht mehr da ist, wie können sich die politischen Eliten in Europa terroristischen oder künftigen militärischen Drohungen von Ländern mit grossem Jugendanteil entgegenstellen? In den kommenden 15 Jahren werden – gemäss Heinsohn – in den Entwicklungsländern etwa 720 Millionen Jungen ins kampffähige Alter kommen, von denen «mindestens 300 Millionen – zweite bis vierte Söhne – in die Territorien der entwickelten Welt drängen». Diesen 300 Millionen entschlossenen, harten, wagemutigen jungen Männern werden 100 Millionen zu Frieden und Gewaltlosigkeit erzogene Gleichaltrige in der entwickelten Welt gegenüberstehen. Die Hereindrängenden haben nichts zu verlieren, die Einheimischen ihren Wohlstand und Komfort.

Der Streit um die Mohammed-Karikaturen zeigt, welchen Druck islamistische Gruppen und islamische Staaten schon heute ausüben können. Gefährdet ist die grosse Leistung der Aufklärung: die Gedanken- und Redefreiheit. Voltaire und seinen Mitstreitern gelang es, die Macht der Kirche über das Denken der Menschen zu brechen. Jetzt fordern muslimische Vordenker eine Beschränkung der Redefreiheit. Ein zentraler Wert des aufgeklärten Europas steht auf dem Spiel. In einem diese Woche im Spiegel online erschienenen Essay sagt der in pakistanischen Koranschulen erzogene, heute im Westen lebende Schriftsteller Ibn Warraq klar, worum es geht: «Ohne das Recht der freien Meinungsäusserung kann eine Demokratie nicht lange überleben – ohne die Freiheit zu diskutieren, unterschiedlicher Meinung zu sein, sogar zu beschimpfen und zu beleidigen. Es ist eine Freiheit, der die islamische Welt so bitter entbehrt, und ohne die der Islam unangefochten verharren wird in seiner dogmatischen, fanatischen, mittelalterlichen Burg; verknöchert, totalitär und intolerant. Ohne fundamentale Freiheit wird der Islam weiterhin das Denken, Menschenrechte, Individualität, Originalität und Wahrheit ersticken. Solange wir keine Solidarität mit den dänischen Karikaturisten zeigen, unverhohlene, laute und öffentliche Solidarität, so lange werden diejenigen Kräfte die Oberhand gewinnen, die versuchen, dem freien Westen eine totalitäre Ideologie aufzuzwingen – die Islamisierung Europas hätte dann in Raten begonnen. Entschuldigt euch also nicht!»

Die Machtverschiebung zugunsten muslimischer Gesellschaften und der wachsende Anteil junger, von ihrer Religion überzeugter Muslime in den europäischen Ländern sollten eigentlich vor allem die politische Linke aus dem Busch klopfen. Ihre Ziele und Ideale laufen am ehesten Gefahr, unter die Räder islamistischer Intoleranz zu kommen. Der konservative Kommentator Mark Steyn formulierte dies so: «Wieso denn, wenn eure grossen Anliegen Feminismus, Abtreibung und Schwulenrechte sind, seid ihr euch so sicher, dass der Kult der Toleranz überlebt, wenn der grösste demographische Anteil in eurer Gesellschaft frisch-fröhlich intolerant ist?»

Kopftuch für alle?

Schon heute werden in niederländischen Stadtvierteln mit muslimischer Bevölkerungsmehrheit Juden, Homosexuelle und «unzüchtig» gekleidete Frauen von jungen Muslimen bedroht. Werden sich unter zunehmendem islamischem Druck unsere Sitten weiter verändern? Werden Buchhandlungen islamkritische Werke weiterhin verkaufen dürfen? Wird man den Alkoholausschank beschränken? Werden sich unsere Frauen dezenter kleiden müssen? Wird es sich eine französische Regierung noch erlauben können, muslimischen Schülerinnen das Tragen des Kopftuchs zu verbieten? Wird es unser Fernsehen wagen, Islamkritiker in den «Zischtigsclub» und die «Arena» einzuladen?

Weil die zu erwartenden gewaltigen und vermutlich leider auch gewaltsamen Auswirkungen des Bevölkerungsschwunds in Europa sich kaum schon in den nächsten Jahren bemerkbar machen werden, stecken wir – Politiker und Öffentlichkeit – den Kopf in den Sand. Während die Lunte zum Brand von Europa bereits glimmt, schwätzen wir über alles andere – wir ereifern uns über Feinstaub, Steuerwettbewerb, Pitbulls, die Privatisierung der Swisscom und weitere der von Toynbee beschriebenen «oberflächlichen, Schlagzeilen machenden Dinge». Arnold Toynbee hat auch gesagt, dass Zivilisationen nicht ermordet werden, sondern Selbstmord begehen. Europa ist auf dem besten Weg dazu.

Hier beginnt der aufgeklärte Sektor

Besteht die Hoffnung, dass die jahrtausendealte europäische Zivilisation ihren anscheinend vorprogrammierten Selbstmord abwenden kann? Ausgeschlossen ist es nicht. Drei Szenarien kann man sich vorstellen, die den Niedergang bremsen oder aufhalten könnten.

Erstens müsste ein geistiger Schub – vergleichbar etwa mit den grossen religiösen Erweckungsbewegungen, wie sie England und die USA im 19. Jahrhundert erlebten – durch Europa gehen, der eine höhere Geburtenrate begünstigen würde.

Zweitens müssten die europäischen Staaten durch eine die nichtmuslimischen Kulturkreise bevorzugende Einwanderungspolitik eine grössere kulturelle Diversifizierung erreichen.

Drittens müsste es den europäischen Gesellschaften durch sozialpolitische Massnahmen gelingen, die einwandernden Muslime von der Gültigkeit der aufgeklärten Moderne zu überzeugen und sie kulturell zu assimilieren. Dies würde der europäischen Kultur ihre Souveränität und den europäischen Staaten ihre Identität bewahren. Voraussetzung allerdings ist, dass Europa sein Selbstvertrauen und den Willen zur Selbstbehauptung wiedererlangt.

Statt an den Amerikanern herumzumäkeln, täten wir gut daran, von der immer noch erfolgreichen Schmelztiegelpolitik der USA zu lernen. Die USA mit einer Gesamtfruchtbarkeitsrate von 2,1 und einer ungebrochenen Einwanderung werden im Gegensatz zu Europa auch bis 2050 kontinuierlich wachsen. In europäischen Publikationen formulierte Prophezeiungen über den Niedergang der Supermacht USA sind reines Wunschdenken.

Über einen Niedergang der europäischen Zivilisationen könnten sich auch die Amerikaner nicht freuen. In einem «Brief an die Europäer» erinnert der amerikanische Historiker Victor Davis Hanson daran, dass Europa die Quelle der westlichen Tradition ist, wie dies am offensichtlichsten Kulturgüter wie die Akropolis, das Pantheon, die Uffizien oder der Vatikan zeigten: «Wir Amerikaner müssen gestehen, dass die <grossen Bücher> – wir selber haben bisher noch keinen Homer, Vergil, Dante, Shakespeare oder Locke hervorgebracht, von da Vinci, Mozart oder Newton gar nicht zu reden – und die <grossen Ideen> des Westens von der Demokratie zum Kapitalismus bis zu den Menschenrechten alle auf eurem Kontinent gewachsen sind.» Gerade deshalb, fährt Hanson fort, klammerten sich die Amerikaner an die Hoffnung, dass Europa «in der elften Stunde» aufwachen werde, sein Erbe wieder entdecke, um zusammen mit Amerika «die Idee des Westens gegen die neueste illiberale Geissel des islamischen Faschismus» zu verteidigen.

Hanson schliesst mit den Worten: «Die Geschichte verzeiht nicht. Niemand erhält einen Freibrief einzig aufgrund des Dunstes vergangener Glorie. Entweder wird eure Wirtschaft sich erneuern, eure Bevölkerung sich vervielfachen und eure Bürgerschaft sich verteidigen – oder eben nicht. Und wenn nicht, wird das Europa, das wir gekannt haben, sterben – zur grossen Freude der Islamisten und zur schrecklichen Trauer Amerikas.»

www.weltwoche.ch Hanspeter Born 09.02.2006

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