Der islamische Fundamentalismus: neue Form der Utopie?
Aus Marokko kommen besonders viele radikale Islamisten, als Ursache wird normalerweise die grosse Armut verantwortlich gemacht
Wenn in Madrid der Prozess gegen 40 Verdächtige der Bombenattentate vom 11. März 2004 beginnt, sitzen vorwiegend Marokkaner auf der Anklagebank. Auch in Deutschland wartet ein Marokkaner, Mounir El Motassadeq, auf sein endgültiges Urteil. Er ist einer von vier Männern marokkanischer Herkunft, die der Beteiligung am 11. September in New York beschuldigt werden. Spaniens führender Staatsanwalt Baltasar Garzon nannte die «Al Qaeda-Marokko Connection» das «schwierigste Problem Europas» in Sachen Terrorismus. Für die hohe Zahl von radikalen Islamisten aus Marokko hält man die Armut des Maghreb-Staats verantwortlich.
Beni Makada ist eine der vielen Vorstadtsiedlungen von Tanger, die in den letzten 15 Jahren gebaut wurden. Die zwei- oder dreistöckigen Häuser sind dicht aneinander gebaut. Ungeteerte Strassen sind besonders im Winter nach heftigen Regenfällen von Matsch überzogen. Viele Exil-Marokkaner haben hier ihr über Jahre in Europa erspartes Geld in Immobilien angelegt. Zukunftssicherung bei besonders günstigen Preisen.
Aus Beni Makada stammen gleich mehrere der Männer, die in Madrid Bomben in die Züge gelegt haben sollen. Die Arbeitslosigkeit in diesem Viertel ist hoch, in der Nacht ein Ort des Drogenhandels und für alle Nicht-Einwohner ein gefährliches Pflaster. Trotzdem passt diese Vorstadt, mit ihren festen Ziegelbauten, mit Supermärkten und Cafes nicht ins Bild einer verwahrlosten, hoffnungslosen Gegend, wie etwa die Slums in Casablanca. Das «Niemandsland» wurden die Bidonvilles dieser 3,5 Millionen Metropole genannt, für die Sidi Moumen typisch ist, aus denen die Attentäter der Bombenattentate in Casablanca vom Mai 2003 kamen.
Aneinander gereihte Blechhütten, wo es keine Strassennamen, keine Adresse gibt, ohne Strom und fliessend Wasser. Exterritoriale Gebiete, in denen sich die Polizei nur selten hinein wagte. Ein Imam sprach dort gemäss der Scharia Recht. Nach einem seiner Schiedssprüche wurde ein Mann sogar hingerichtet.
Die bittere Armut habe die Menschen dieser Bidonvilles in den Terror getrieben, liest man bis heute in der internationalen Presse, aber auch in marokkanischen Magazinen wie «Le Journal» oder «Telquel». «Dabei ist es zu kurz gegriffen», behauptet Abdelhay Moudden, Professor für Politikwissenschaft an der Mohammed V. Universität in Rabat, «sozioökonomische Faktoren als einzige Erklärung für islamischen Fundamentalismus zu nehmen.» Viele Attentäter aus Saudi-Arabien oder auch der Türkei kämen aus wohlhabenden Familien. Seiner Meinung nach sei es vielmehr ein komplexes Phänomen mit unterschiedlichen Variablen:
Die reale Welt ist nicht mehr befriedigend und die immaterielle Welt, wie die der Religion, wird immer attraktiver. Tod oder Selbstmord werden zu zweitrangigen Kategorien.
Für den 52-jährigen Politikwissenschaftler ist es ein historischer Kreislauf, der sich jetzt wieder schliesst.
Es gab eine Krise der Utopien. Die sozialistische Utopie der 60er und 70er Jahre des letzten Jahrhunderts hat ihre Wichtigkeit verloren. Nun ist leider extremistischer Fundamentalismus eine neue Form von Utopia.
Nach den Attentaten von Casablanca hatte die marokkanische Regierung Massnahmen versprochen, die die Armut in den Slums und Vorortsiedlungen der Grossstädte bekämpfen. Wasserleitungen und Elektrizität sollten gelegt werden, neue Wohnungen gebaut und die Menschen umgesiedelt werden. Davon ist in Sidi Moumen drei Jahre nach den Attentaten wenig zu sehen. Noch immer holen jeden Morgen verschleierte Frauen ihr Wasser am Brunnen. Rundum liegen massenweise Plastiktüten, Kartons und andere Abfälle. Dafür gibt es eine neue Polizeistation, die Moschee, in der die Attentäter beteten, wurde geschlossen und der Imam wie viele andere Bewohner des Viertels verhaftet. «Die Polizei war nicht zimperlich», berichtet einer der Jungen, die in der Nähe der Moschee Fussball spielen. «Aber wirklich besser geworden ist nichts», sagt er und seine Freunde nicken eifrig. Er will wie alle anderen so schnell wie möglich weg von hier.
Auch in Beni Makada, einer der vielen Vorstädte Tangers, wurden Razzien durchgeführt, viele Menschen oft wahllos verhaftet und monatelang in Untersuchungshaft gesteckt. Der radikale Imam des Viertels, Mohammed Fizazi, wurde zu 30 Jahren Gefängnis verurteilt, obwohl er lange Zeit mit Wohlwollen der Behörden gegen unliebsame islamische Bewegungen gepredigt hatte. Ein Opfer der Terrorhysterie und eines neuen Anti-Terrorgesetzes, das wenige Tage nach den Bomben in Casablanca vom Parlament mit überwältigender Mehrheit angenommen wurde. Über 7'000 Menschen verhafteten die marokkanischen Behörden, wobei in nur knapp 2'000 der Fälle tatsächlich Anklage erhoben wurde.
Am zweiten Jahrestag der Casablanca-Attentate verkündete Koenig Mohammed VI. einen neuen «Nationalen Entwicklungsplan», der etwa 100 Millionen Euro für die Restrukturierung der Slums vorsieht. Man kann nur hoffen, dass diesmal mit den Versprechungen wahr gemacht wird. Im Rest von Marokko, insbesondere im Norden, scheint es Mohammed VI. mit seinen Modernisierungsplänen Ernst zu sein (Arabisches Königreich auf dem Weg in die Moderne). Bei vielen Grossprojekten wie in Tanger beispielsweise, einer Stadt, die von seinem 1999 verstorbenen Vater Hassan II. jahrzehntelang vernachlässigt wurde, kümmert sich der neue Monarch persönlich um ein zügiges Vorankommen.
In der Nähe von Tanger soll 2007 einer der grössten Mittelmeerhäfen mit grossräumigen Freihandelszonen eingeweiht werden. Das eine Milliarde Dollar teuere Projekt soll insgesamt 145'000 neue Arbeitsplätze schaffen. Wer weiss, ob das junge Leute aus Tanger, die bisher überproportional im marokkanischen Kontingent islamistischer Terroristen vertreten sind, in Zukunft davon abhält, für das Paradies zu kämpfen und zu sterben. In jedem Fall trägt der neue Hafen and auch alle anderen Projekte zur Senkung der Arbeitslosenquote bei. Von der 30 Millionen Einwohnern waren 2005 nach offiziellen Angaben 11,5% ohne Arbeit, 14,3% lebten unter der Armutsgrenze.
Erfüllung einer religiösen Pflicht
Im November 2005 waren 17 Terroristen von den marokkanischen Behörden verhaftet worden, die im Koenigreich zwei Hotels, eine grosse ausländische Firma und verschiedene Regierungsgebäude in der Hauptstadt Rabat in die Luft jagen wollten. Unter den Verhafteten zwei erst kürzlich aus Guantanamo Entlassene sowie zwei ehemalige Irak-Kämpfer. Sie hatten offensichtlich bereits neue Mitglieder für eine Al-Qaida-Zelle rekrutiert.
Gerade Kriegsveteranen sind für Marokko ein grosses Problem. Nicht nur Heimkehrer aus dem Irak, sondern auch Marokkaner, die in Afghanistan gekämpft und eine Ausbildung in den Al Qaida-Lagern erhalten haben. Insgesamt sollen rund 800 Männer bei den Taliban gewesen sein. In den Jahren vor den Flugzeug-Attentaten in New York konnten radikale Islamisten zwischen Marokko und Afghanistan noch völlig unbehelligt hin und her reisen. Nun gibt es jedoch ein FBI-Büro in Rabat und die Zusammenarbeit mit Washington in Sachen Terrorismus wurde intensiviert.
Ein Grund übrigens, der von einer bisher unbekannten Gruppe für den Kampf gegen das «korrupte Koenigreich» angegeben wurde. Kurz vor den 17 Verhaftungen im November meldete sich die «Marokkanische Bewegung Tawheed Wal-Jihad» (Vereinigung und Heiliger Krieg), dem Namen nach ein marokkanisches «Franchise-Unternehmen» von Abu Musab al Sarkawi im Irak, und kündigte Anschläge innerhalb Marokkos an.
Bisher war nur die «Marokkanische Islamische Kampftruppe» als Terrornetzwerk bekannt, das auch in Algerien und Tunesien Zweigstellen hatte. Dieses Netzwerk hält man sowohl für die Bomben in Casablanca 2003, als auch in Madrid 2004 verantwortlich. Es soll im Süden der Sahara, im algerischen Grenzgebiet zu Marokko, einige Trainingscamps unterhalten. Das Gebiet wird zwar offiziell von der saharischen Befreiungsbewegung «Polisario» kontrolliert, ist aber in Wirklichkeit unüberschaubar.
Man kann sicher sein, dass die «Islamische Kampftruppe» ihre Infrastruktur bereitwillig auch den Mitgliedern von «Tawheed wal-Islam» zur Verfügung stellt. Neue Anschläge in Marokko und auch in Europa, gerade in Spanien, das nur 14 Kilometer auf der anderen Seite des Mittelmeeres liegt, sind nur eine Frage der Zeit. «Tod und Selbstmord spielen eine untergeordnete Rolle», wie Abdelhay Moudden, von der Universität in Rabat sagte. «Es geht um die Erfüllung einer religiösen Pflicht.»
www.heise.de Alfred Hackensberger 21.02.2006
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