Der kleine Coiffeur und die grosse Liebe
Die Freilichtaufführung auf dem Gurten zeigt Dällenbach Kari als klassisch-tragischen Liebeshelden
Dällenbach Kari als Schutzheiliger der unglücklich Verliebten: Ein himmeltrauriger Abend der leisen Lacher ist Livia Anne Richards gelungene bernische Variation von «Die Schöne und das Biest».
Als Dällenbach Kari seine Annemarie zum ersten Mal küsst, zwitschern auf dem Gurten die Vögel. Ein Sonnenuntergang rückt das junge Liebesglück ins schönste Licht, und einen Moment lang scheint auch eine Zukunft möglich für das so unterschiedliche Paar: Die Fabrikantentochter hat dem Coiffeur ihre Halskette mit dem goldenen Herzlein geschenkt und dessen Heiratsantrag mit einem inbrünstigen Ja angenommen. Doch den beiden ist keine Zukunft beschieden. Wegen «dem Zeug da», wie Dällenbach seine Hasenscharte nennt, jenes Mal in seinem Gesicht, das auch seine Seele gebrandmarkt hat.
Hätte der Coiffeur nicht sein Leben mit dem Sprung von der Kornhausbrücke beendet, seine Anekdoten wären wohl schnell in Vergessenheit geraten. 75 Jahre nach seinem tragischen Tod kommt das Coiffeur-Original von der Neuengasse gleich zweimal zu einem grossen Auftritt: Anders als die Bühne Lyssach, die im April dieses Jahres mit ihrem «Dällenbach Kari» ein facettenreiches Schicksal zeigte, beschränkt sich der Text und die Inszenierung der Berner Theaterfrau Livia Anne Richard auf die unglückliche Liebe Dällenbachs. Der Bauernsohn und Coiffeurmeister, so viel ist überliefert, durfte seine grosse Liebe Annemarie Geiser, eine Tochter aus gutem Hause, nicht heiraten. Richard hat nun aus der Fülle der Geschichten und Legenden eine schnörkellose Liebesgeschichte herausgeschält, die an den gesellschaftlichen Konventionen zerbricht.
Menschenkenner und Träumer
Eine poetisch fragile Figur ist dieser Dällenbach (1877–1931), ein Träumer und Philosoph, den – wie so viele tragische Helden der Weltliteratur, die an der Liebe zugrunde gehen – das Unglück grösser macht. Äusserst sparsam zeichnet Richard den Coiffeur mit dem grossen Herzen, dem in seinem Unglück jene nicht entgehen, die im Leben zu kurz kommen.
Für die Welt dieses tragischen Helden mit tschechowschen Dimensionen genügen auf dem Gurten ein paar wenige Requisiten (Bühne: Markus Keller). Ein altes Velo, ein noch älteres Trichtergrammofon, zwei Strassenlaternen und ein paar Beizentische illustrieren Karis kleine Welt. Sogar der Coiffeursalon wird ausgeblendet. Wie perfekt er sein Handwerk beherrschte, soll auch der echte Dällenbach gelegentlich in der Wirtsstube demonstriert haben.
Dällenbachs Unglück wird auf der Gurtenbühne an einem einzigen Abend im Wirtshaus vorgeführt. Ein letztes Mal ist Kari dort, gezeichnet vom Krebs. «Magekräbs. Weisch Annemarie, so säge si däm, we eim der Härzschmärz i Buuch abe rütscht.» Den Tod vor Augen, kommen noch einmal alle jene Erinnerungen hoch, mit denen er nicht fertig geworden ist. Und der Schmerz ist noch so heftig, als wäre es gestern gewesen, dass Annemarie ihn geküsst und dann doch einen anderen geheiratet und ihr Vater ihn gedemütigt hat. Immer wieder lässt Anne Livia Richard Dällenbach mit seinen Erinnerungen aus dem Beizentrott ausbrechen, und die Welt um ihn herum erstarrt, wenn ihn die Sehnsucht nach dem verlorenen Glück übermannt.
Mal scheu und linkisch, mal hellsichtig und aufbrausend, mal weich und verletzlich taucht Markus Maria Enggist als Kari mit weidwundem Blick und berührender Glaubwürdigkeit durch dieses Meer der herben Enttäuschungen. Mit ihrem schwärmerischen, forschen Überschwang ist die junge Nina Bühlmann als Annemarie eine ideale Ergänzung, und die beiden geben in ihrer Gegensätzlichkeit über weite Strecken ein überzeugendes Liebespaar ab – trotz den allzu kurz gehaltenen Szenen der Annäherung.
Volkstheater im besten Sinn
Ähnlich stark konturiert und typisiert wie das Liebespaar sind die übrigen Figuren, mit denen der Regisseurin Volkstheater im besten Sinne gelingt: der eitle Nationalrat, der arme Verbrecher, der herrische Vater, die spröde Mutter und die warmherzige Wirtin werden zum Chor, der dem «himmeltraurigen Abend», wie einmal einer von Karis Kumpeln moniert, dieser gelungenen bernischen Variation von «Die Schöne und das Biest» einen stimmigen Rahmen schafft.
Der bewährte Kunstgriff der eingefrorenen Bilder, den Richard schon bei früheren Inszenierungen eingesetzt hat, funktioniert auch hier, verpasst er doch den leisen Momenten genügend Raum in einer Umgebung, die mit Sternenhimmel, Gänseblümchen und Grillen wie geschaffen ist für diese traurigschöne Geschichte, der man ein paar Schwächen gern nachsieht. Zum Beispiel die paar holprigen und platten Stellen im Text, wenn einer von Karis Kumpanen immer wieder sagt: «Gib no eine zum Beschte, Kari», oder sich Christine Lauterburgs Auftritte als Lieder- und Lustweib allzu dominant in die Länge ziehen.
Wenn Dällenbach dann für immer im Dunkeln verschwindet, die Rechnung mit seinem verunglückten Leben mit dem Sprung von der Brücke begleicht, zwitschern die Vögel längst nicht mehr und auch die Grillen sind verstummt. Und die unglücklich Liebenden haben einen neuen Schutzheiligen.
www.ebund.ch 02.06.2006
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