Bern jubelt auf italienisch
Das Duell der Tricoloren strapazierte gestern auch in Bern die Nerven der Fussballfans. Ein Stimmungsbericht aus der Aarbergergasse.
Am Brandenburger Tor in Berlin und in Rom jubelten Hunderttausende gestern beim WM-Finalmatch Frankreich - Italien. Zu einer kleinen Version der Berliner Fanmeile wurde die Berner Aarbergergasse. Hunderte Anhänger der «Squadra Azzurra» verwandelten die Altstadt in ein blaues und rot-weiss-grünes Farbenmeer. Statt auf einer grossen Leinwand flimmerte der Match über viele TV-Bildschirme, die die Restaurants aufgestellt hatten. Im «Moléson» assen die Gäste noch während der ersten Halbzeit seelenruhig ihren Muscheltopf, während andere inbrünstig das erste Tor der «Azzurri» bejubelten. Dazwischen balancierten die Kellner ihre Tabletts durch die Menge. Fans der «Equipe Tricolore» waren kaum zu sehen.
Eine Stunde vor Anpfiff strömten die Fans in die Altstadt. Viele in blauen Trikots oder in die italienische Flagge gehüllt. Einige Optimisten formierten sich bereits auf dem Anfahrtsweg zu einem Autokorso. Lange vor Spielbeginn waren die Sitzplätze in der Aarberggergasse belegt, Stehplätze gab es noch in den Lauben. Daniela Cesarano und ihre Kollegen hatten welche ergattert. «Seit dem Achtelfinale kommen wir zum Feiern in die Innenstadt», sagte die 19-jährige Halbitalienerin. «Die Stimmung ist einfach toll.» Sie zeigte stolz auf ihre rot-weiss-grünen Schuhe: «Die sind selbst gemacht.» Daniela weiss, «wir haben mit den Franzosen bisher keine guten Erfahrungen gemacht». Aber Hauptsache: «Italien ist im Finale!»
Das «Divino» war bis auf den letzten Platz mit in Blau gekleideten Fans besetzt. Statt Bier wurde Kaffee getrunken, Kinder waren dabei, das Spiel wurde italienisch kommentiert. Als die italienische Nationalhymne ertönte, stimmte das Lokal mit ein. Schrill wurde bei der Marsellaise gepfiffen. Annika Hesse verzog kurz das Gesicht. Vom Spiel bekommt die Kellnerin wenig mit: «Keine Zeit», rief die 21-Jährige und füllte ihr Tablett mit Gläsern. Während der gesamten WM hat sie gearbeitet, heute trägt sie ein blaues Trikot – ist sie also Italienfan? «Nein, ich war für Deutschland.»
Gegen Ende der zweiten Halbzeit steigerte sich der Geräuschpegel um ein Vielfaches, verwandelte sich die Aarbergergasse in ein tobendes Stadion. Jeder Angriff der «Azzurri» wurde lauthals unterstützt. Die Nachspielzeit zerrte an den Nerven, erst das Penalty-Schiessen brachte die Erlösung für die italienischen Fans. Aus der Anspannung wurde ekstatische Freude über den ersten WM-Titel seit 1982. Zeitgleich startete der Autokorso auf Berns Strassen.
«Deutlich mehr Zuschauer»
Die Fussball-WM 2006 wird als die Weltmeisterschaft der öffentlichen Fussballübertragungen in Erinnerung bleiben. Kaum ein Restaurant, das nicht TV-Apparate in den Garten stellte, kaum ein Lokal, das keine Extra-Leinwand aufzog. Und noch nie haben so viele Leute ausser Haus Fussball geschaut wie diesen Frühsommer.
Der Aarbergerhof gehört zu den Dinosauriern unter den Lokalen mit Fussballübertragung. Hier wurde schon Fussball übertragen, als es noch nicht hip war, in den Trikots der diversen Nationalmannschaften herumzulaufen. Doch trotz der «riesigen Konkurrenz», die dieses Jahr geherrscht habe, sagt der stellvertretende Geschäftsführer Patrick Schaad: «Es war wie immer, wenn WM ist – nur noch etwas verrückter.» Und: «Bei Topspielen hätten wir das Haus sicher fünfmal füllen können.»
Nachdem die Verhandlungen mit der Stadt über den Platz vor dem Restaurant gescheitert waren, lagerte das Lokal «im Juli» im Berner Breitenrainquartier sein WM-Studio auf die Kasernenwiese aus. «Zum Glück war die Armee unkomplizierter als die Stadt», sagt der WM-Verantwortliche This Dauwalder. Auch dank dem grossen Wetterglück sei der Anlass rundum gelungen. «Unser Fussball-Zelt ist während der WM zum Quartiertreff geworden», sagt Dauwalder. Es habe eine wunderbare Stimmung geherrscht und kaum Reklamationen gegeben, «obwohl wir mitten in einem Wohnquartier waren».
YB-Fangesänge im Wankdorf
Ohne dass ein Live-Fussballspiel stattgefunden hätte, sind in den vergangenen vier Wochen über 20 000 Fussballfans ins Wankdorfstadion gepilgert, um sich auf den dortigen Leinwänden die WM-Spiele anzuschauen. «Friedlich, schön und ein voller Erfolg» sei der Anlass gewesen, sagt die Medienverantwortliche des Stade de Suisse, Marianne Gut. Mit so vielen Leuten habe man nicht gerechnet. «Und die Stimmung war phantastisch», schwärmt Gut, immer wieder seien Fangesänge angestimmt worden, «ja sogar die YB-Viertelstunde wurde hinuntergezählt».
Noch mehr Leute hat Radio BE1 in die alte Curlinghalle gelockt, wo die WM-Spiele übertragen worden sind. «Wir hatten über 40'000 Besucher», sagt Bernhard Krättli, kommerzieller Leiter bei BE1. Und auch hier das Fazit: «Voller Erfolg, deutlich mehr Zuschauer als in früheren Jahren.» Die Stimmung sei «sensationell» gewesen, «länderübergreifend und trotzdem immer friedlich».
Etwas ruhiger gings im Klubhaus des FC Sternenberg in Schlatt bei Schliern zu und her, wo Christoph Spycher Fussballspielen gelernt hat. «Zwischen 30 und 300 Leute waren hier», sagt Ko-Organisator Marc Ringgenberg. «Vor allem bei den Schweizer Spielen war die Euphorie riesig.» Gleiches vermeldet auch das Bierhübeli. «Es ist noch besser gelaufen als an der letzten EM», sagt die Event-Verantwortliche Nicole Bergdorf, und fügt an: «Trotz allem bin ich froh, dass es jetzt vorbei ist.»
www.espace.ch Anne-Careen Stoltze 10.07.2006
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