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20.3.06

Das Gedächtnis der Schweiz unter dem Scanner

Die US-Suchmaschine Google bringt Millionen von Büchern vollständig ins Internet. Europäische Bibliotheken kontern mit einem eigenen Internet-Projekt. Das grosse Scannen hat begonnen – auch in der Schweiz.

Ein Kellerraum der Schweizerischen Landesbibliothek (SLB) in Bern. Ein Lichtstrahl fährt über das aufgeschlagene Buch. Das Bild der Doppelseite erscheint am Monitor. Der Mitarbeiter kann weiterblättern.

Etwa 250 Seiten pro Stunde können so eingelesen werden. Bisher wird erst im Auftrag gescannt, etwa um alte Bücher nachzudrucken. Das soll sich nun ändern. Die Bücher sollen übers Internet für alle einsehbar werden.

Als Google Ende 2004 mit Scannen des Gesamtbestandes fünf grosser US-Universitäten begann, fürchtete der französische Kulturminister Renaud Donnedieu, das kulturelle Erbe Europas komme im US-lastigen Projekt zu kurz – und mobilisierte zum Gegenangriff. Er überzeugte die Europäische Kommission, mit einer Europäischen Digitalen Bibliothek eine eigene Internet-Buchsuche zu lancieren.

Mit dabei ist auch die SLB. Wie genau vorgegangen wird, weiss allerdings noch niemand. Nur eines ist klar: Die SLB stösst mit dem epochalen Projekt finanziell und organisatorisch an ihre Grenzen.

Die SLB verfügt über 3,6 Millionen Dokumente. Rechnet man mit durchschnittlich 200 Seiten pro Dokument, müsste mit den heutigen drei Scannern 109 Jahre lang täglich 24 Stunden ununterbrochen gescannt werden. Eine Aufnahme des Gesamtbestandes ist unrealistisch – selbst wenn irgendwann die neuesten Scanner zur Verfügung stehen, die zehnmal schneller arbeiten.

Über die Kosten ist noch nichts bekannt. Nur: Die Länder müssen für die Erfassung selber aufkommen. Die SLB rechnet je nach Scanmaschine und Zustand des Dokuments mit 7 bis 14 Rappen pro Buchseite. Selbst wenn nur ein Bruchteil des Bestandes erfasst wird, ergibt dies Beträge, die mit dem Jahresbudget von 20 Millionen Fr. (2004) nie zu bewältigen sind.

Dessen sind sich die Verantwortlichen der Europäischen Digitalen Bibliothek bewusst. Die erste Zielsetzung ist denn auch bescheiden: Von den 2,5 Milliarden Büchern und Zeitschriften in europäischen Nationalbibliotheken sollen bis 2010 erst sechs Millionen online verfügbar sein. «Eine der wichtigsten Aufgaben ist die Selektion», sagt SLB-Direktorin Marie-Christine Doffey (47).

Hermann Köstler (63), Direktor der Zentralbibliothek Zürich (ZB), zweifelt am Sinn des Projekts. Für ihn ist die Europäische Digitale Bibliothek ein «national gefärbtes Prestigeobjekt». Er befürchtet eine Verschleuderung von Steuergeldern.

Die Digitalisierung ist aber auch für die ZB ein wichtiges Thema. Neue Dokumente sollen in Zukunft von Beginn weg elektronisch aufbewahrt werden. Doch wie bei der SLB sind auch bei der ZB Mittel für neue Aufgaben kaum vorhanden. Beide Bibliotheken müssen deshalb private Mittel generieren. Dabei schliessen sie auch eine Zusammenarbeit mit Google nicht aus. «Es ist alles eine Frage der Vertragsbedingungen», so Doffey und Köstler einhellig.

www.blick.ch Rico Bandle 20.03.2006

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