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6.3.06

Arabisches Königreich auf dem Weg in die Moderne

Vor fünfzig Jahren wurde Marokko unabhängig, aber erst seit 1999 mit dem Antritt von Mohammed VI wurden wirkliche politische Reformen eingeleitet

Auch eine Woche nach den Feierlichkeiten zum 50. Jahrestag der Unabhängigkeit sind die Prachtstrassen der marokkanischen Städte mit Lichtergirlanden, Fahnen und Postern geschmückt. Drei Tage lang war im ganzen Land gefeiert worden, um dem Ende der französischen und spanischen Kolonialzeit zu gedenken. Am 16. November 1955 war Koenig Mohammed V aus dem Exil in Madagaskar nach Marokko zurückgekehrt.

In der Hauptstadt Rabat fand der offizielle Teil statt, wie üblich mit königlichem Pomp und Gloria von Paraden, Feuerwerk und Staatsgästen aus aller Welt. Bei seiner Ansprache legte der amtierende marokkanische König Mohammed VI das Schwergewicht auf das Verhältnis zu den ehemaligen Kolonialmächten. «Es gilt die Partnerschaft zwischen Frankreich, Spanien und Marokko zu verstärken und mit politischem Scharfsinn den Komplex eines kolonisierten Landes abzustreifen.»

Frankreich und Spanien gehören nicht nur zu den Haupthandelspartnern Marokkos, sie unterstützen auch den politischen Kurs von Mohammed VI. Insbesondere die neue sozialistische Regierung in Spanien steht auf der Seite Marokkos mit seinem Anspruch auf das umstrittene Gebiet der Westsahara, das es 1975, nach dem Abzug der spanischen Kolonialtruppen, annektiert hatte (Kampf um die Westsahara). Vor kurzem garantierte Madrid eine finanzielle Hilfe über 165 Millionen Euro der Stiftung für «Nationale humane Entwicklung», die der König Mohammed VI im Mai gegründet hatte.

Dementsprechend beteuerte der französische Premierminister Dominique de Villepin in seiner Rede vor dem Königsmausoleum in Rabat die «Solidarität und Freundschaft mit den Menschen von Marokko». Der spanische Premier Jose Louis Zapatero lobte die «Demokratie und Freiheit in Marokko» und sprach von einer «Balance zwischen Vergangenheit und Modernität», die das Land in 50 Jahren Unabhängigkeit gefunden habe.

Von «Demokratie und Freiheit» kann in Marokko noch nicht lange gesprochen werden. Erst mit der Thronbesteigung von Mohammed VI im Juli 1999, nach dem Tod seines Vater Hassan II, begann eine Zeit der Reformen. Zehntausende von politischen Häftlingen wurden frei gelassen und berüchtigte Hochsicherheitsgefängnisse geschlossen. Der König telefonierte höchst persönlich mit Dissidenten im Exil und bat um ihre Rückkehr. Die Menschen begannen wieder in Cafes und Bars öffentlich über Politik zu diskutieren. Die strikte Zensur der Presse wurde aufgegeben und eine Liberalisierung der Wirtschaft brachte Investitionen aus dem Ausland. Sogar islamistischen Parteien war es erlaubt, legal zu operieren und an Wahlen teilzunehmen. Bei den ersten freien Wahlen im Jahr 1999 kam die islamistische Partei PJD (Partei der Gerechtigkeit und Entwicklung) mit 37 Sitzen ins Parlament. Auf Initiative des Königs wurde sogar das Familiengesetz (Mudawana) geändert, das der Frau mehr Rechte einräumt. Ein Vorgang, der, mit Ausnahme Tunesiens, einmalig in der arabischen Welt ist.

Mit dem Terroranschlag in Casablanca wurde die eingeleitete Liberalisierung gefährdet

Einen herben Rückschritt bedeuteten die Terroranschläge radikaler Islamisten in Casablanca im Mai 2004. In den folgenden Wochen versuchten die Behörden allen Mitgliedern der damals rund 20 radikalen islamischen Organisationen habhaft zu werden. Koranschulen wurden platt gewalzt, Studentengruppen überwacht, ihre Treffen verboten. Zu Hilfe kam den Behörden dabei ein neues Terrorismusgesetz, das drei Tage nach den Anschlägen einstimmig im marokkanischen Parlament verabschiedet wurde. Das Gesetz erlaubt u.a. die Telefonüberwachung, nächtliche Hausdurchsuchungen, eine Verlängerung der Haftfrist ohne Anklageerhebung von 48 auf 96 Stunden und den Widerruf des Bankgeheimnisses. Statt der ehemaligen «linken Häftlinge» sitzen nun radikale Islamisten und die, die dafür gehalten werden, in den Gefängnissen.

«Von einer Liberalisierung Marokkos kann ich nichts spüren», sagt Ghizlaine Bahraouj, eine islamische Frauenrechtlerin der al-Adl Wal Ihassane (Partei für Gerechtigkeit und Wohltätigkeit/Spiritualität), die jede Form von Gewalt ablehnt. «Wir werden ständig überwacht und unsere Mitglieder ohne Grund eingesperrt.» Ihrer Meinung nach sei auch nichts von sozialem Fortschritt spürbar. «Gehen Sie doch nur einmal in die öffentlichen Krankenhäuser, wo die meisten Menschen hin müssen, da sie sich keine private Versorgung leisten können. Es gibt nicht genügend Medikamente, die hygienischen Zustände sind ein Katastrophe.» Die Galionsfigur der al-Adl Wal Ihassane ist Nadia Yassin, deren Vater viele Jahre unter Hassan II. im Gefängnis sass. Sie ist der Majestätsbeleidigung angeklagt, weil sie öffentlich sagte, dass sie eine Republik der Monarchie vorzöge.

Die 14 Attentäter von Casablanca kamen alle aus dem Blechhüttenlabyrinth Sidi Moumens im Nordosten der Stadt, in dem es weder Strassen und Hausnummern noch fliessend Wasser und Strom gibt. In diesem Elendsviertel, von dem man nicht einmal weiss, wie viele Menschen dort leben, wurde im Februar 2003 ein «Gottloser» gesteinigt. «Der islamische Terror», sagt ein Polizist, der anonym bleiben will, «wächst in diesen Barackenstädten. Er ist ein Ergebnis des Elends, der Arbeitslosigkeit, öffentlicher Ignoranz und fehlender Hilfe von sozialen Organisationen.» Gerade die radikal-islamistischen Organisationen versuchen, sich um die sozialen Probleme Marokkos zu kümmern, im Grossen wie im Kleinen. Man unterstützt den Orangensaftverkäufer an der Ecke oder macht es so wie die Gruppe al-Adl Wal Ihassane (Gerechtigkeit und Wohltätigkeit), die vor fünf Jahren die Badestrände besetzte, Zelte aufbaute, Volksküchen einrichtete, kostenlose ärztliche Behandlung und Koranseminare anbot. Als in kurzer Zeit Zeltstädte entstanden und tausende Besucher kamen, wurde das Ganze von der Regierung verboten.

Die Armut hat kaum abgenommen

Nicht umsonst hatte Mohammed VI bei seinem Amtsantritt den «Kampf gegen die Armut» als oberste Priorität bezeichnet, was ihm den Namen «König der Armen» einbrachte. Tatsächlich wurden in Slums und entlegenen ländlichen Gebieten Elektrizität und Wasserleitungen gelegt. Marokko durchziehen jetzt neue Autobahnen und auch der Zugverkehr wurde reorganisiert und ausgebaut. An den sozialen Unterschieden und Problemen hat es aber kaum etwas geändert. 14, 3 % der Menschen leben unter der Armutsgrenze (1994 16,5 %), die Analphabetenrate liegt bei 43% (1998 48%) und die Arbeitslosenquote beträgt 11,6 %. Ein Drittel der Bevölkerung ist unter 15 Jahre. Jedes Jahr werden in Marokko 200'000 neue Arbeitsplätze geschaffen, aber insgesamt 300'000 suchen einen Job.

Der «Barcelona Prozess», der 1995 initiiert wurde und eine Partnerschaft zwischen Europäischer Union und den Anrainerstaaten des Mittelmeeres fördern sollte, hat Marokko wenig gebracht. «Die Resultate sind bescheiden», musste kürzlich auch der Präsident des EU-Parlaments, Joseph Borell zugeben. «Politisch bestehen alle Konflikte wie bisher weiter und ökonomisch wird die Kluft zwischen dem europäischen Festland und den Staaten auf der anderen Seite des Mittelmeeres grösser».

Anstatt sich auf die EU zu verlassen, hat Marokko selbst die Initiative ergriffen und baut mit Geldgebern aus Saudi-Arabien einen neuen Hafen in der Nähe von Tanger, der einer der grössten Containerumschlagplätze im mediterranen Raum werden soll. «Es ist ganz klar», sagte der Minister für Handel, Industrie und ökonomische Entwicklung, Salaheddine Mezouar, «Marokko bindet sich an Europa mit einem grossen logistischen Plan. Das Ziel ist, eine Region für Investment, Produktion und Export zu erzeugen.» Das Kernstück dieses logistischen Plans sei der neue Mittelmeerhafen. «Spezialisiert auf Automobile und Elektronik», erklärte Salaheddine Mezouar. Mit einer grossen Freihandelszone, die europäische Firmen anlocken soll. Billige Arbeitslöhne und attraktive Steuervergünstigungen nur einen Katzensprung vom europäischen Festland, auf der anderen Seite der Meerenge von Gibraltar entfernt. «Es geht um eine Optimierung der ökonomischen Potentiale der Region», meinte der Handelsminister. In Tanger soll diese «Optimierung» rund 100'000 neue Arbeitsplätze schaffen.

«Arbeit gehört zu den Dingen, die die Menschen in Marokko zu allererst interessieren», sagt ein Arzneimittelvertreter aus Rabat, der mit seiner Familie zu den Feierlichkeiten am Unabhängigkeitstag nach Rabat kam. «Dafür geht man überall hin, auch dorthin, wo es einem nicht gefällt.» Der Familienvater ist aus Neugierde und den Kindern wegen nach Rabat gekommen. «Für die kleinen sind Paraden mit den bunten Uniformen eine aufregende Sache. Aber sonst ist das Spektakel wenig interessant. Von Paraden und schönen Reden alleine können die Menschen nicht leben. Verstehen Sie, was ich meine?»

www.heise.de Alfred Hackensberger 27.11.2005
Siehe auch: Marokko

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