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29.1.06

Die Hamas ist nicht nur radikal

Nur wenige Islamisten befürworten die Anwendung von Gewalt. Der Umgang mit der gewaltbereiten Hamas wird die Zukunft der Islamisten prägen.

Islamisten sind Leute, die einen islamischen Staat anstreben. Sie verstehen diesen als einen Staat, der unter dem islamischen Gottesgesetz, der Scharia, regiert werden soll. Die grosse Mehrheit der Islamisten hofft, dieses Ziel durch friedliche Überzeugungsarbeit unter den Muslimen zu erreichen. Es gibt aber kleinere Minderheiten unter den Islamisten, die glauben, wenn es nicht anders gehe, müsse der islamische Staat durch Gewaltakte erkämpft werden. Ein kleiner Teil der Muslime sind Islamisten, ein noch kleinerer Teil der Islamisten setzt auf Gewalt.

Wenn die Hamas bisher auf Gewaltanwendung beharrte, ging dies nicht so sehr auf die islamistische Lehre der Bewegung zurück als auf die Lage der Palästinenser. Die Gewalt sollte dazu dienen, das Land Palästina von der israelischen Herrschaft zu befreien. Die Bewegung hoffte, dieses Ziel zu erreichen, indem sie das islamische Gottesgesetz genau befolgte; dies, so ihr Credo, würde auch zu einem Erfolg im Befreiungskampf gegen Israel führen. Die Hamas ist nicht nur eine islamistische Bewegung, sondern eine islamistische Befreiungsbewegung. Als solche kann sie zwei Ziele verfolgen: die Scharia in dem Teil Palästinas einführen, in dem sie nun zur gewählten Mehrheitspartei wurde, oder zum Befreiungskampf gegen Israel aufrufen. Natürlich kann sie auch versuchen, beide Ziele gleichzeitig anzustreben. Welchen dieser Wege sie wählt, dürfte wesentlich vom Grad der Ablehnung oder Kooperationsbereitschaft abhängen, mit dem ihre Gegner, die Israeli und deren politische Freunde, allen voran die Amerikaner, den Wahlsieg der Hamas aufnehmen.

Das erste Land, in dem Islamisten an die Macht kamen, war Iran. Später siegten sie dann noch in Afghanistan und in der Türkei. In Iran übernahmen sie die Macht übrigens nach weitgehend friedlichen Demonstrationen. Aber sie haben dort seit ihrer Machtergreifung 1979 an Popularität verloren. Grosse Teile der jungen Bevölkerung möchten heute freier leben, mit mehr Verbindung zur Aussenwelt und mit besseren Chancen, lohnende Arbeit zu finden. Viele Iraner finden heute, die islamistische Führung habe ihre Verheissungen nicht eingehalten. Das Gleiche droht auch den Islamisten der Hamas, wenn sie nun Verantwortung für das Geschehen in den besetzten Gebieten übernehmen. Sie verheissen die «Befreiung» der besetzten Gebiete oder gar ganz «Palästinas». Ihre heute errungene Führungsposition können sie nur so lange aufrechterhalten, als sie eines dieser Ziele glaubwürdig verfolgen. Der Umstand, dass sie sich überhaupt zu den Wahlen in den besetzten Gebieten stellten, erhellt, dass es einflussreiche Kreise innerhalb der islamistischen Bewegung gibt, die darauf setzen, zunächst einmal die Geschicke des Gazastreifens und des Westjordanlandes in die Hand zu nehmen.

Wenn die anderen Mächte im Spiel, vor allem Israel und die Vereinigten Staaten, ein ganz klein wenig auch Europa, sich kooperationswillig zeigen, werden sie jene Kräfte in der Hamas stärken, die zunächst auf die friedliche islamistische Durchdringung ihrer neuen Herrschaftsgebiete aus sind. Die würden versuchen, eine Gesellschaft und einen Staat nach den Regeln der Scharia einzurichten. Dies dürfte keine leichte Aufgabe sein und ihre vollen Kräfte in Anspruch nehmen. Sie könnten dabei aber nur Fortschritte machen, wenn «der Krieg» gegen Israel zunächst einmal eingestellt würde.

Wenn dieses Verfahren auch nur teilweise erfolgreich wäre, würde eine Fortsetzung des «Krieges» schwierig, weil dieser alles Erreichte unvermeidlich in Frage stellen würde. Sollten die Israeli und die Amerikaner auf einer Ablehnung der Hamas bestehen, würden sie damit bewirken, dass die Bewegung gar nicht anders kann, als in die Rolle einer gewalttätigen Befreiungsbewegung zurückzufallen und ihren «Krieg» gegen Israel mit spärlichen und «terroristischen» Mitteln weiterzuführen.

Der Autor war 30 Jahre lang Arabien-Korrespondent der «Neuen Zürcher Zeitung».

NZZ am Sonntag Arnold Hottinger 29.01.2006

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