Die reichsten Armen der Welt
Schweiz leistet sich eine Debatte über Armut, die angeblich so grassiert wie noch nie im Land
Zürich - Von den vielen Alarmzahlen, die produziert werden, um die Öffentlichkeit zu entrüsten und zu lenken, hat in der Schweiz wieder einmal eine den medialen und politischen Durchbruch geschafft. «Eine Million Arme in der Schweiz», «Jeder siebte Schweizer arm», «Immer mehr sind immer ärmer», «Armut als Armutszeugnis» titelten über den Jahreswechsel ohne Ausnahme die helvetischen Zeitungen. Nicht selten trieften die meisten Kommentare vor Betroffenheit, schürten den reflexartig einsetzenden Neid auf die Manager und forderten entschlossenes (staatliches) Handeln. Die politischen Parteien zeigten sich fast durch die Bank weg tief «schockiert».
Nur mitzählen und nachrechnen und das Elend genau analysieren wollte niemand. Wer stellt im reichsten Land der Welt, so die jüngste Weltbank-Studie zum Wohlstand der Nationen, das Riesenheer der Notleidenden? Wo und wie lebt dieses Siebtel der Schweizer? Betteln oder stehlen sich diese Menschen am Rande der Gesellschaft durch? Schlafen sie unter Brücken, hungern sie? Und warum werden sie plötzlich zum Thema? Die Antworten auf die Fragen hätten die Gerührten verwirrt. Hergestellt und in einem «Sozialalmanach» verbreitet hat die Zahl das (ehemals) katholische Hilfswerk Caritas. Die Organisation, die gegründet wurde, um die private christliche Nächstenliebe zu bündeln, agiert heute als staatlich mitfinanzierte Frontkämpferin für den Ausbau des Sozialstaates. Die Caritas-Leute haben die Million Armer aus einem Mix von zum Teil nachweislich falschen Basisdaten und Schätzungen sowie mit einer in Fachkreisen hoch umstrittenen Definition von «Armut» fabriziert. Ziel ihrer Übung war es, eine politische Schockzahl zu präsentieren, eine Zahl, wie sie selbst schreiben, die «erstmals die psychologisch wichtige Grenze von einer Million übersteigt».
Nun hat sich im sozialen Gefüge der Wohlstandsgesellschaft Schweiz in den letzten Jahren nicht viel verändert - ausser dass es den Menschen im Schnitt stets noch etwas besser geht. Weil die Einkommen der Haushalte kontinuierlich leicht ansteigen, verschieben sich parallel dazu die Bedürfnisse nach oben. So haben die Sozialhelfer des Landes kürzlich die Schwelle der Bedürftigkeit um rund sechs Prozent angehoben. Und weil dieses willkürliche Limit als «Armutsgrenze» gilt, liess dieser Verwaltungsakt die Zahl der statistisch Armen sprunghaft ansteigen. Arm ist und Zuschüsse von den Kommunen erhält in der Schweiz derjenige, der weniger Einkünfte ausweist als der Durchschnitt der 20 Prozent der Haushalte mit den niedrigsten Einkommen. In konkreten Zahlen: Die Armutsgrenze für eine alleinstehende Person verläuft derzeit bei einem monatlichen Gehalt von 2450 Franken (1635 Euro), dies nach Abzug von Steuern und Sozialabgaben! Arm ist in der Schweiz ein Vier-Personen-Haushalt, der, ebenfalls nach Steuern und Sozialabgaben (!), weniger verdient als 4550 Franken (3035 Euro) - selbst wenn er, wie Erhebungen zeigen, meist über ein Auto, ein Ferienbudget und über die üblichen Elektrogeräte bis zum DVD-Player verfügt. Ein Ökonom hat - ohne viel Echo - vorgerechnet, dass 80 Prozent der «Working poors» gar nicht mehr arm wären, wenn man die Armutsgrenze um nur 200 Franken (133 Euro) absenken würde.
Die aufgeregte Armutsdebatte bewegt sich auf hohem Niveau, auf oberster Stufe, wenn man der Analyse der Weltbank folgt. Selbst wenn man die stolzen und gemäss ernst zu nehmenden Gutachtern überhöhten Ansätze als Basis nimmt, lassen sich im Lande real nie und nimmer 1 000 000 «Arme» zählen. Diese «psychologisch wichtige» Marke erreichen die Sozialstatistiker nur mit Tricks: Sie zählen erstens die Höchstwerte zweier privater Schätzungen über die Zahl armer Kinder und armer Alter zusammen und packen zweitens auf dieses Ergebnis noch die amtlich erfassten «Working poors». Um den neuen Millionenwert zu verbreiten, griffen sie auf einen veralteten Höchstwert aus dem Jahr 2003 zurück. Gemäss der aktuellen Statistik liegt der Wert weit darunter. Wozu dieser Aufwand, eine Ziffer zu konstruieren, die nicht stimmt? Hintergrund der Aktion ist der Trend, dass die Fürsorgebudgets der Gemeinden und Städte nachgerade explodieren und dass nicht mehr alle Kommunen bereit sind, sämtliche Antragsteller unbesehen zu unterstützen, selbst wenn sie die Schweizer Armutsnorm erfüllen. Die Debatte bereitet das Terrain vor, die «soziale Existenzsicherung», also die Garantie eines bequemen Einkommens, zu einer neuen nationalen Aufgabe zu machen. Laut Caritas hätte die neue staatliche Gesamtsicherung in einem zweiten Schritt «sämtliche Notlagen» abzudecken, in die Menschen geraten können. Und so nach und nach alle Unterschiede einzuebnen, damit die Schweizer gleicher werden, gleich arm.
www.welt.de Urs Engeler 24.01.2006
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