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16.1.06

Aussterbende Keimzellen der Gesellschaft

Ehe und Familie werden von Religionen geschützt - und verschwinden doch allmählich aus dem Blickfeld

Berlin - Dass die Lebensform Familie heute nur noch eine Option unter vielen ist, ist ein relativ neuer Trend. Zu fast allen Zeiten und in fast allen Kulturen gab es kaum eine Alternative, und auch die grossen monotheistischen Religionen stellen Ehe und Familie unter besonderen Schutz. Dies betonten die Vertreter aus Christentum und Islam, die auf einer Veranstaltung der Konrad Adenauer Stiftung in Berlin miteinander über die Herausforderungen sprachen, denen Familien im 21. Jahrhundert begegnen.

Wie ein Fels in der Brandung steht die katholische Kirche zur Ehe als lebenslangem Sakrament. «Dabei sollte der eheliche Akt auch offen sein für die Empfängnis von Kindern», sagt Weihbischof Franz Vorrath. Die Eheleute dürfen bei der Familienplanung allenfalls auf die natürliche Empfängnisverhütung zurückgreifen, denn auch heute noch steht die Kirche zu der Verknüpfung zwischen Sexualität und Fruchtbarkeit, die durch die Anti-Baby-Pille weitgehend aus dem Blick geraten ist. «Nur der Orientierte kann auch Orientierung geben», meint Vorrath und ist überzeugt, dass nur die Familie Menschen die Geborgenheit gibt, aus der heraus sie sich entfalten können.

Der Islam sieht die Ehe dagegen wesentlich weltlicher, sagt die Anthropologin Ziba Mir-Hosseini, die an den Universitäten von Cambridge und London lehrt. Die Ehe ist im Koran ein geschäftlicher Vertrag zwischen Mann und Frau, die dann wie «Kleider füreinander sein sollen». Empfängnisverhütung in der Ehe ist erlaubt, und auch eine Scheidung ist möglich, wenn in der Praxis auch sehr oft zum Nachteil der Frauen geregelt. Dies musste die Anthropologin erleben, als ihre Ehe im Iran vor über 20 Jahren auseinanderbrach. Als Frau konnte sie die Scheidung nicht ohne Einwilligung ihres damaligen Ehegatten erreichen. Doch mit Argumenten aus dem Koran überzeugte sie den Richter. Und als sie die praktische Rechtsprechung im Iran und in Marokko verglich, machte sie eine überraschende Entdeckung: Im islamistisch regierten Iran hatten die Frauen mehr Rechte als im scheinbar säkularen Marokko. «Wer sagt, dass sich der Schlüssel zum Käfig nicht innerhalb des Käfigs befinden kann», zitiert sie einen Poeten. Erst im vergangenen Jahr wurde in Marokko das Familienrecht modernisiert. Auch in Marokko waren es Argumente aus dem Koran, die die harte Fraktion der Konservativen schliesslich überzeugten. Der Koran selbst betont die Gleichberechtigung von Männern und Frauen, sagt Mir-Hosseini, die für einen moslemisch geprägten Feminismus steht: Von den über 660'000 Versen des Koran könnten nur sechs so interpretiert werden, dass Männer und Frauen nicht gleiche Rechte hätten.

Doch Religionen haben in den westlichen Ländern an Bedeutung verloren, Menschen wünschen sich zwar eine Familie, leben diesen Wunsch aber immer seltener. «Die bürgerlichen Familien sind aus den Innenstädten abgewandert», sagt der Soziologe Hans Bertram von der Berliner Humboldt-Universität. Und Meinungsmacher propagieren als erfolgreiches Lebensmodell eher die «freiwilligen, zölibatären Gemeinschaften» von Singles, die nur dem Beruf verpflichtet seien. Die «Keimzelle Familie» wird so zum Auslaufmodell erklärt, obwohl auch heute noch 80 Prozent der Kinder in klassischen Familien aufwachsen.

www.welt.de Antonia Rötger 10.09.2005

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